Geister der Vergangenheit
Fedoras Gang war schwankend, als sie sich durch das Unterholz mühte. Heimlich hatte sie sich aus dem Lager entfernt, um etwas zu erledigen. Bei jedem Schritt wurde das Gewicht des Amulettes schwerer, welches um ihren Hals baumelte. ‘Gleich‘, mahnte sich die Frau selber zur Ruhe. ‘Gleich ist es geschafft.‘ Abrupt hielt sie inne, als vor ihr die sumpfige Bracke auftauchte, nach der sie gesucht hatte. Fedora löste das Amulett von ihrem Hals und starrte noch einmal darauf, bevor sie es in einer schwungvollen Bewegung in das vermoderte Wasser schmiß. ‘Ich hoffe, du läßt mich nun endlich in Ruhe.‘ Sie hob sich eine Tonkaraffe an den Mund und trank mit gierigen Zügen den Inhalt aus. ”Ich will dich nicht! Wage es nicht, noch einmal zu mir zurückzukehren.” rief sie ärgerlich. Sie torkelte und mit einer wütenden Geste warf sie die leere Karaffe gegen den nächsten Baum. Danach ging die Frau in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. ”Glücksbringer.” kicherte Fedora benommen. ”Das ich nicht lache.” Wie ein Schatten glitt Gaetano aus dem Geäst der Bäume und sah der Frau hinterher. Nachdem sie nicht mehr in Sichtweite war, wanderte sein Blick auf das Amulett, welches nicht versinken wollte. ”Nimm.” ”Behüte.” ”Verwahre.” ”Jetzt.” ”Hab keine Angst.” Er trat in das Naß, ergriff das Amulett und verschwand im Dunkel der Nacht. \ Arnoldo öffnete vorsichtig die Plane des Zelteinganges und spähte in das Chaos, welches sich hier vor ihm auftat. Es war Augenscheinlich leer. Gerade als er sich entfernen wollte, hörte er ein leises Stöhnen. Der Mann betrat das Zelt und ging dem Geräusch nach, bis er vor einem Nachtlager stand. Darauf befand sich niemand, die Decken waren jedoch zur anderen Seite heruntergezogen. Er ging um das Lager herum und sah eine Person, welche auf dem Erdboden lag. Um sie herum befanden sich leere Tonkrüge und Karaffen. Arnoldo bückte sich und strich Fedora eine Haarsträhne aus dem Gesicht. ”Wann hörst du endlich damit auf?” fragte er mahnend. ”Du richtest dich noch zugrunde.” Fedora schlug nach der Hand. ”Gehwechunlaßmichschlafen”, murmelte sie, trunken vom Schlaf und vom Wein. Arnoldo stand auf und verließ ärgerlich das Zelt, wobei ihm ein Mann über den Weg lief. ”He, Diego. Hast du ihr den ganzen Wein besorgt?” fragte Arnoldo ungehalten. ”Si, Arnoldo.” Dabei hob der glatzköpfige Riese hilflos seine Hände. ”Ihr kennt sie doch. Sie findet immer überzeugende Hijklmnopqrsb PQRS\abcdefij Gesprengte Ketten Seite 8 Argumente, denen man nicht widerstehen kann.” Diego lächelte gequält. ”Das tut sie, in der Tat”, bestätigte Arnoldo. ”Ich brauche einen großen Becher heißen, starken und scharfen Xoxlatl. Und zwar sofort.” Diego nickte und eilte davon, während Arnoldo einen Eimer ergriff und entschlossen auf ein Wasserfaß zu marschierte. Fedora schrie, als sich das kalte Wasser über sie ergoß. ”Bisduirre ...?” Arnoldo stand breitbeinig vor der Frau, die Hände hatte er in seine Hüften gestemmt und blickte zornig auf sie hinunter. Fedora schüttelte das Wasser aus ihrem Haar, wobei ihr schwindelig wurde. Sie drückte ihre Hände gegen die Schläfen, um den Schmerz zurückzuhalten, der sich anscheinend aus ihrem Kopf nach draußen arbeiten wollte. Sie atmete ein paar mal tief durch, bis der Schmerz geringer wurde. ”Ich habe mir so viel Mühe gegeben, das ganze Zeug zu vernichten.” Dabei deutete sie auf ihre Umgebung. ”Und du ....” Arnoldo schaute immer wütender und Fedora fand, es wäre nun besser, sich nicht auf eine Diskussion mit ihm einzulassen. “... ach was soll’s”, winkte sie ab. Fahler Geschmack bereitete sich in ihrem Mund aus, und ihr Blick glitt suchend über den Boden. ”Kann ich irgend etwas für dich tun?” fragte sie dabei Arnoldo. ”Nein. Dich möchte bloß jemand sprechen.” Diego erschien am Eingang des Zeltes und hielt vorsichtig einen dampfenden Becher hinein. Arnoldo machte sich auf, um das Getränk in Empfang zu nehmen, wobei Fedora die Gelegenheit nutzte, den von ihr gesuchten Krug zu ergreifen, um den restlichen Inhalt zu trinken. ”Es reicht!” Arnoldo beugte sich hinunter und schlug ihr das Gefäß aus der Hand. ”Hier, trink das.” Dabei drückte er ihr den Becher in die Hände. Fedora sah angewidert hinein. ”Bäh. Willst du mich umbringen?” Vorwurfsvoll blickte sie den Mann an. Arnoldos Schnaufen war die einzige Antwort darauf. Er durchsuchte mittlerweile einige Kisten und zog schließlich saubere Kleidungsstücke heraus. Dabei beobachtete er Fedora, welche immer noch auf dem Boden hockte und geistesabwesend in die heiße Xoxlatl pustete. ”Wer will mich sprechen?” Fedora trank. ”Ein Tarcyri. Er meint, er gehört zu Asceo Agrippas Truppen.” ”Mjerda! Djos Maldito!” fluchte Fedora lauthals. Arnoldo zog eine Augenbraue in die Höhe und starrte die Frau verwundert an. ”Ich habe mir die Zunge verbrannt, Maldito!” meinte sie zu ihm, als sie seinen Blick bemerkte. ”Ach so.” ”Was will er?” ”Woher soll ich das wissen?” er zuckte mit den Schultern. ”Er möchte es nur der Lilie sagen.” Arnoldo nahm Fedora den Becher aus der Hand, stellte ihn ab und zog sie in die Höhe. ”Zieh dein Hemd aus”, befahl er. Ohne zu murren, zog sie sich das Hemd über den Kopf und schmiß es achtlos auf den Boden. ”Wartet er schon lange?” ”Hände oben lassen”, meinte Arnoldo und schon stülpte er ihr das frische Hemd über. ”Ja. Er findet es bestimmt nicht amüsant, die ganze Zeit mit verbundenen Augen dazusitzen und auf dich zu warten. - Hose.” Fedora öffnete das Kleidungsstück, Hijklmnopqrsb PQRS\abcdefij Gesprengte Ketten Seite 9 und auch dieses glitt zu Boden. ”Und wenn schon? Er wird gewußt haben, auf was er sich einläßt.” meinte sie gelassen. Bestimmt war ihr Bote die halbe Nacht mit dem Tarcyri kreuz und quer durch das Land gezogen, bis er ihn schließlich zum Lager geführt hatte. Sie schmunzelte bei dieser Vorstellung. ”Linkes Bein.” Fedora steckte ihren Fuß hinein. ”Rechtes.” Sie hielt sich an Arnoldos Schulter fest um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dieser zog die Hose hoch, stopfte das Hemd hinein und verknotete den Gürtel. ”Einer von Asceos Männern? Sag, sind die nicht alle aus Tizio abgezogen?” fragte sie. ”Ja.” Er hielt ihr eine lange, graue Weste entgegen, welche reichlich verziert war. Als auch dieses Kleidungsstück angezogen war, reichte er ihr den Becher zurück. ”Austrinken.” Nachdem Arnoldo die Weste zugeknöpft hatte, holte er ihre knielangen Stiefel. ”Fast perfekt. Komm, laß dir die Haare machen.” Mühsam bürstete er durch ihr verknotetes Haar, faßte es zu einem Zopf und wickelte ein langes, schwarzes Band darum. Dann nahm er ihr erneut den, diesmal geleerten, Becher ab, maskierte mit einem schwarzen Tuch ihr Gesicht, setzte ihr einen Hut auf den Kopf und schnallte ihren Waffengürtel um die Hüften. ”Fertig.” Arnoldo betrachtete sein Werk und war mit sich zufrieden. ”Hör auf, so selbstgefällig zu grinsen”, meinte Fedora bloß. Auf dem Weg nach draußen blieb sie vor einem kleinen Tisch stehen und ergriff ihre ledernen Handschuhe. ”Die vergißt du immer.” \ Als Fedora sich dem Zelt näherte, hoffte sie, daß ihr Gang nicht zu sehr an einen Frysen erinnerte, der mehrere Jahre kein Land mehr gesehen hatte. Arnoldo hatte darauf bestanden, daß sie auf einer Kugel kaute, die aus frischen Kräutern und Blättern bestand. Wie hatte er sich noch ausgedrückt: “Damit der Tarcyri nicht gleich riecht, welche Kriegsfahne die Lilie vor sich herträgt!” Kaum war sie durch den Eingang des Zeltes, da war der mittlerweile von seiner Augenbinde befreite Tarcyri auch schon aufgesprungen, hatte sich verbeugt und ohne Punkt und Komma angefangen zu reden: “Seid gegrüßt! Mein Name ist Hector Vincenzo Manuel il Rabacca di Tulgari der Jüngere. Mein Kommandante Asceo Missaglia Agrippa, Held von Runghold und Retter von Tizio sendet Euch, dem großen Freiheitskämpfer, seine ergebensten Grüße.” “Nennt mich einfach die ‘Lilie’. Was will der Scharfrichter der Legion von uns?” Fedoras Ton troff vor Hohn, was den Gesandten, der seine Rede sichtlich gut einstudiert hatte, aus der Fassung zu bringen schien. “Ähm... Er... Kommandante Agrippa versichert Euch seines Wohlwollens. Er konnte nicht länger ertragen, wie das Land, das er und seine Cuchi voller Stolz Heimat nennen, und seine Bevölkerung unter der Knute des Reichs des Feuers leidet. Daher hat er mit dem Imperium gebrochen und ist mit seiner Streitmacht in die Berge gezogen, um dort voller Ungeduld darauf zu harren, die Unterdrücker mit gerechter Wut aus dem geliebtem Land zu treiben.” ‘In Tizio hätte ich ein kleines Vermögen für ein solches Schauspiel zahlen dürfen', dachte Fedora und widerstand dem Drang, zu applaudieren. “Und ...?” “Meinem Kommandante ist zu Ohren gekommen, daß auch die ‘Purpurne Lilie’ Hijklmnopqrsb PQRS\abcdefij Gesprengte Ketten Seite 10 ...” “Violett.” warf Fedora ein. Tulgari konnte nicht ganz folgen. “Was meinen Sie?” “Violett. Die ‘Purpurne Lilie‘ haust zwei Täler weiter.” antwortete Fedora gelassen. Im Gesicht des Gesandten zeichnete sich deutlich dessen Verwirrung ab. “Nun, ob Purpur oder Violett, was spielt das für eine Rolle ...” “Eine große. Aber Ihr habt mit Sicherheit nicht all die Mühen auf Euch genommen, um vor mir zu erscheinen, damit wir über den Unterschied der Farben debattieren. Also bitte ... fahrt mit Eurem Anliegen fort.” Fast ein wenig gelangweilt nahm sie Platz und der Abgesandte folgte ihrem Beispiel. Erneut hatte die ‘Lilie‘ es geschafft, ihn aus dem Konzept zu bringen. Er dachte einen Augenblick lang nach, dann schien er sich zu erinnern, an welcher Stelle er unterbrochen worden war. “Nun, meinem Kommandante ist zu Ohren gekommen, daß die ‘Violette Lilie‘ und ihre Gefolgsleute sich rechtschaffen für die Belange des Volkes einsetzen, und daher bin ich befugt, Euch und eurer Gemeinschaft ein Bündnis vorzuschlagen, um unser gemeinsames Ziel zu erreichen und das Joch des Imperiums abzuschütteln.” Sein Lächeln schien offen und ehrlich. Jeder andere hätte sofort dem Kaufvertrag für ein Gebrauchtpferd unterschrieben, aber Fedora war nicht irgend jemand. Zudem hatte sie Kopfschmerzen und ihr war übel. “Das heißt also im Klartext: Der Zwirbelbart ist der Meinung, das Imperium nicht alleine vertreiben zu können. Er wird vernünftig. Das freut mich, denn ich denke genauso. Wenn die Zeit kommt, wird jeder gebraucht werden, der seine Heimat liebt und eine Waffe führen kann. Laßt uns also dem Imperium gemeinsam in den Arsch treten!” Sie stand auf und reichte Hector Vincenzo Manuel il Rabacca di Tulgari dem Jüngeren ihre Hand. \ Mamercus erwachte schweißgebadet. Verwirrt sah er sich in seiner Unterkunft um, schwang dann seine Beine von der Liege und trat an seine Waschschüssel. Immer wieder benetzte er sein Gesicht, bis er sich schließlich mit seinen Armen abstützte und in das sich beruhigende Wasser blickte. Plötzlich kräuselte sich die Oberfläche, und kleine schwarze Nebelschwaden stiegen aus dem Gefäß empor. Instinktiv trat Mamercus einige Schritte zurück. ”Was zum ...?” Der Satz blieb unvollendet. Der Nebel quoll über die Schüssel und ergoß sich auf den Boden, wo er sich zusammenzog, dann jedoch in die Höhe schnellte. Eine Gestalt löste sich daraus, schritt auf den Hoendis zu und hielt dicht vor ihm an. Alles war so schnell gegangen, das ihm noch nicht einmal genügend Zeit verblieben war, seine Waffe zu ergreifen. Wie gebannt stand er abwartend da. Vogelgleiche Krallen streckten sich nach seinem Gesicht aus und Liebkosten es sanft. Diese Berührung verursachte ein wohliges prickeln auf seiner Haut. ”Mamercus.” gurrte eine weibliche Stimme. ”Was macht dir solch eine Angst? Was quält dich so?” Er war unfähig, sich zu bewegen. Fasziniert starrte er auf das verspiegelte Gesicht seines Gegenübers. ”Wer seid Ihr?” Die schwarzen Federn ihres Umhangs raschelten auf, als sie sich um ihn herum bewegte. Immer noch ruhte eine Krallenhand auf seinem Gesicht, die andere führte sie unter seinem Arm hindurch und streichelte über seinen nackten Hijklmnopqrsb PQRS\abcdefij Gesprengte Ketten Seite 11 Oberkörper. ”Ich bin Noctuna, die Herrin der Nacht. Ich denke, du hast schon von mir gehört.” Mamercus nickte zur Bestätigung mit dem Kopf. Noctuna fuhr mit ihren Händen über Mamercus Körper, sie glitten langsam über seinen vernarbten Rücken, wobei sie einige davon mit ihren Krallen nachzeichnete. “So viel Leid.” meinte sie mitfühlend. ”Vertraue dich mir an, Damiano.” flüsterte sie dem Mann verführerisch ins Ohr. Als Antwort erhielt sie ein stöhnen, welches wohl daher rührte, das sich ihre Krallen an seinem Körper immer weiter nach unten tasteten. Mamercus atmete schwer, er fühlte lang unterdrückte Sehnsüchte und Begierden. Noctuna preßte ihren Körper nun fest gegen seinen, woraufhin er erneut aufstöhnte. Seine Gedanken überschlugen sich. Was geschah mit ihm? Konnte ihm dieses Wesen vielleicht dabei helfen, seine in letzter Zeit immer wiederkehrenden Alpträume loszuwerden? Träume, die nicht greifbar waren, welche er nicht verstehen wollte. Die Krallen lösten sich von seinem Körper, packten seine Arme und Noctuna drehte denn Mann fast unsanft zu sich herum. ”Ja, Damiano. Ich bin geneigt, dir zu helfen. Dafür verlange ich auch nur einen kleinen Gefallen von dir. Nicht mehr,” sie machte eine kurze Pause und ihr Spiegelgesicht war nun dicht vor seinem, “ ... und nicht weniger.” säuselte sie weiter. Plötzlich legte sie ihre Krallenhände an seine Schläfen, wobei sich ein Glied an jeder Hand verlängerte und bohrte diese in seinen Kopf. Ein stummer Schrei kam über seine Lippen und entsetzen stand in seinen Augen. ”Laß uns in die Vergangenheit reisen, mein Freund. Laß mich sehen, was dich zu dem gemacht hat, was du heute bist. Vertraue dich mir an. Zeige mir alles!” sagte sie gebieterisch. Langsam sank er in die Knie. Erinnerungen aus längst vergangenen Tagen kamen in ihm hoch. Tage, in denen Damiano, damals hieß er noch Kajus Flavius, glücklich war. Bis der Schrecken über ihn und seine Familie hereinbrach. \ Vor siebzehn Jahren: ”Wach auf, mein Sohn.” Lydia rüttelte an der Schulter ihres vierzehnjährigen Sohnes. Schlaftrunken sah er aus großen, dunklen Augen zu ihr auf. ”Was ist denn, Mutter?” ”Eile dich, Kajus.” Sie zog die leichte Decke fort und half ihm hoch. ”Zieh dich an”, befahl sie knapp. Der schmächtige Junge gehorchte und streifte seine Tunika über seinen Kränklich aussehenden Körper. Jetzt erst bemerkte er, das auch Arinius, sein um fünf Jahre älterer Hauslehrer, anwesend war. ”Mutter! Was geht hier vor?” ”Du mußt fort. Arinius wird dich begleiten und für dich sorgen.” Kajus sah, das der junge Mann zwei Ledersäcke geschultert hatte und nun Kajus Waffen zusammen kramte, welche er auf den Tod nicht ausstehen konnte. Wie sehr hatte er seinen Vater angefleht, ihn nicht in der Kampfkunst unterweisen zu lassen. Er fand keine Erfüllung darin, sich mit anderen zu prügeln. Viel lieber verbrachte er seine gesamte Zeit in der großen öffentlichen Schriftenhalle. Er fand großen Gefallen daran, in den Werken alter Meister zu lesen, oder selber Gedichte und Lieder zu verfassen. Aber sein Vater unterstützte ihn dabei in keinster Weise. Er war schließlich sein einziger Sohn und dieser hatte zu lernen wie man sich verteidigt. Er wollte keinen Weichling als Erben. Hijklmnopqrsb PQRS\abcdefij Gesprengte Ketten Seite 12 Lydia riß ihn aus seinen Gedanken. “Kajus?” “Ich verstehe nicht ...?” ”Dein Vater hat unseren gesamten Besitz verspielt, mein Sohn. Und noch mehr. Jeden Augenblick kann der neue Eigentümer auftauchen und sein Recht einfordern. Du weißt, was das für mich und deine Schwestern bedeutet. Und für dich.” Lydia öffnete die Tür, und gemeinsam schlichen sie die Treppe hinunter. Der Junge hörte die Stimme seines Vaters. Anscheinend gab er seinen Leibwächtern und Sklaven genaue Anweisungen, was sie zu tun hatten. Lydia gab den beiden Jungen ein Zeichen, daß sie ihr leise folgen sollten. So schlichen sie weiter unbemerkt zu einem Tor, welches in den Hinterhof und den angrenzenden Garten führte. Kajus konnte es nicht fassen. Ihm war zwar bekannt, daß die Spielsucht seines Vaters krankhaft war, wie er sich nach hohen Verlusten dem Wein hingab und seine Mutter in seiner Wut grün und blau schlug. Aber das er so weit gehen würde und den ganzen Besitz verspielte, konnte er nicht begreifen. Sie waren Reich, besaßen große Ländereien und alles, was einem das Leben leichter machte. Wie konnte man dies alles in einem Spiel verlieren? ”Mutter”, flüsterte Kajus. ”Laß mich bleiben. Ich werde nicht zulassen, daß du und die Anderen als Sklaven verkauft werdet.” ”Nein. Nein. Man wird dich töten, mein Sohn. Mir ist es leichter ums Herz, wenn ich weiß, das du lebst.” Sie öffnete das Tor und zog ihren Sohn ins Freie. Noch einmal nahm sie sein Gesicht in ihre Hände und küßte ihn auf die Stirn. ”Mutter.” Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf. ”Wo soll ich denn hin?” fragend blickte er seine Mutter an. ”Ich werde zu Salvinas Vater gehen und von dort Hilfe holen ...” Ja, der Vater seiner Verlobten mußte ihnen einfach helfen. Etwas anderes würde ihm gar nicht übrigbleiben. ”Nein. Du mußt begreifen, das uns niemand helfen kann. Vergiß Salvina. Ihr Vater wird sie dir nie zur Frau geben können.” ”Was soll das heißen? Ich liebe sie, wir sind einander schon seit Jahren versprochen.” ”Alles hat sich geändert, es tut mir so leid. Verlasse das Land. Vergiß uns ... und nun geh. Arinius, bitte!” Hilflos sah sie den Hauslehrer an. Dann, ohne sich noch einmal nach ihm umzusehen, schloß sie die Tür. ”Kommt, junger Herr. Wir müssen gehen.” Von der Vorderseite des Hauses drang Hufgetrappel zu ihnen vor. Kajus stand da wie angewurzelt. Wo sollte er nur hin, was war zu tun? Arinius zog an seinem Ärmel und führte ihn durch den Garten, hinaus in die Felder. ”Warte”, meinte Kajus. ”Hier lang.” Er ließ sich auf alle Viere nieder und krabbelte zur Vorderfront des Hauses. ”Herr, was macht Ihr?” ”Sei still”, befahl Kajus. Er teilte einige Halme und sah auf den Eingang. Dort stand sein Vater und um ihn herum seine Leibgarde. ”Verschwindet von meinem Besitz, ihr Hunde!” brüllte er zornig. ”Legt die Waffe nieder und fügt Euch in Euer Schicksal.” rief ihm der Anführer des Trupps zu. ”Ihr hättet gut daran getan, eher an die Folgen Eurer Spielwut zu denken, und an Eure Familie. Niemand hat Euch dazu gezwungen, Haus und Hijklmnopqrsb PQRS\abcdefij Gesprengte Ketten Seite 13 Hof, ja sogar Euer eigenes Leben zu verspielen.” Kajus konnte nicht erkennen, um wessen Leute es sich handelte. Sie trugen schwarze Lederrüstungen ohne jegliche Abzeichen. ”Ihr wißt wohl nicht, wenn Ihr vor Euch habt!” rief sein Vater. ”Ihr wißt wohl nicht, wem dies nun alles gehört!” erhielt er als Antwort. ”Schafft sie fort”, rief der Anführer seinen Männern zu. Kajus Vater stürmte nach vorne und wollte den Sprecher vom Pferd ziehen. Seine Leibgarde stürzte sich auf die anderen Männer, ein wilder Kampf entbrannte. Dieser war allerdings nicht von langer Dauer. Der Anführer der Anderen bohrte seinem Vater die Klinge tief ins Herz, und tot sank dieser zu Boden. Seiner Leibgarde erging es nicht viel besser. Keiner blieb am Leben. Kajus schrie leise auf, als er auf das Blutbad starrte. Der Anführer blickte sich kurz um, zog sich den Helm vom Kopf und sah genau in die Richtung seines Verstecks, wendete sich dann aber wieder dem weiteren Geschehen zu. ”Holt die Diener aus dem Haus und bringt sie weg”, befahl er, schritt dann die wenigen Stufen nach oben und verschwand im Haus. Seine Männer folgten ihm, und schon war Gekreische von drinnen zu vernehmen. ”Herr.” drängte Arinius, ”Laßt uns gehen. Bitte!” Kajus hockte fassungslos in seinem Versteck. Sein Vater war tot und er wußte nicht, was in jenem Augenblick im Haus vor sich ging. Was war mit seiner Mutter, was mit seinen Schwestern? Das Geschrei wurde immer lauter, und die ersten Diener wurden nach draußen gezerrt. Er wollte sich gerade umdrehen und Arinius befehlen, ihm seine Waffe zu geben, als er bemerkte, wie der Anführer in der Tür erschien. Kajus stockte der Atem. Auf seinem Arm trug er ein kleines, weinendes Bündel, in der anderen hielt er sein blutiges Schwert. ‘Naemi‘ schoß es Kajus durch den Kopf. Das mußte Naemi sein, seine kleinste Schwester, gerade mal ein paar Monde alt. “Gib mir mein Schwert.” befahl Kajus flüsternd. “Junger Herr. Eure Mutter gab mir genau Anweisungen und ich werde es nicht zulassen, das Ihr in wenigen Augenblicken ebenfalls tot dort unten liegt.” Kajus Augen funkelten den Hauslehrer wütend an. “Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden?” “Ich erfülle nur die Wünsche Eurer Mutter, junger Herr.” Kajus rang mit sich. Er wußte, wie sehr Arinius recht hatte. Gegen diese Männer würde er nicht bestehen. Tränen der Wut und Enttäuschung stiegen in ihm hoch. Sein Körper bebte vor Zorn. ”Wer sich wehrt, wird getötet”, meinte die Person in der Tür eiskalt zu seinen Männern und verschwand wieder im Haus. ”Ja, Arinius”, flüsterte Kajus schließlich heiser, ”Laß uns von hier verschwinden.” \ ”Hast du ihn fortgeschickt?” fragte der Anführer. ”Ja, schon vor einer Weile”, antwortete Lydia. ”War das wirklich nötig?” ”Du weißt, das es das einzig Richtige war.” Immer noch hielt der Anführer die kleine Naemi in seinen Armen und wiegHijklmnopqrsb PQRS\abcdefij Gesprengte Ketten Seite 14 te sie zärtlich hin und her. ”Hast du alles nötige zusammen gepackt?” ”Aber natürlich. Die Mädchen sind auch bereit.” ”Gut. Dann laß uns aufbrechen.” Der Anführer reichte die Kleine an Lydia und wollte den Raum verlassen, als er plötzlich inne hielt und die Frau betrachtete. ”Mach dir keine Gedanken um das, was geschehen ist. Du hattest keine andere Wahl. Was meinst du, was mit dir geschehen wäre, wenn Kajus Maximus erfahren hätte, daß die Mädchen von einem anderen Mann sind. Mit ein paar blauen Flecken wärest du nicht davon gekommen. Dein Sohn, sein einziges Kind und rechtmäßiger Erbe, hätte das Recht gehabt, dich zu töten und die Mädchen ebenfalls, wenn es ihm danach gelüstet. Außerdem hat niemand Maximus dazu gezwungen, alles zu verspielen.” Dabei zwinkerte der Anführer Lydia mit einem Auge zu. ”Und nun komm, dein Zukünftiger wartet schon.” Der Anführer legte einen Arm schützend um Lydias Schulter und führte sie nach draußen. \ Kajus und Arinius standen auf einem Hügel und sahen noch einmal auf das alte Heim, welches inzwischen lichterloh brannte. Was für einen Sinn machte es, seinen in einem Spiel gewonnenen Besitz zu verbrennen? \ ”Rufe dir die Gesichter der Menschen zurück, die dein Glück zerstört haben”, flüsterte Noctuna. Erneut überkam den Mann eine Welle des Schmerzes und ihm war, als würde Noctuna ihre Krallen noch tiefer in seinen Kopf bohren. Er griff nach ihnen und umklammerte sie, konnte diese aber kein Stück bewegen. ”Hört auf”, bettelte Damiano. ”Die Gesichter, Kajus Flavius!” ”Nein! Nein! Laßt mich!” rief er heißer. Er wollte nicht, er konnte nicht. Der Schmerz war so schon groß genug. ”Jetzt!” “Nein!” “Gehorche!” Seine Finger gruben sich noch tiefer in ihre Krallen, sein Körper zitterte und war mit Schweiß überströmt. Dann sah er es. Es war nur eines, welches aus dem Vergessen hochkam. Das Gesicht des Anführers. Es war das Gesicht einer Kriegerin. ”Sehr gut”, lobte ihn Noctuna. ”Und nun erkenne.” Der Druck ihrer Krallen verstärkte sich noch einmal. Der Mann bäumte sich auf, wollte schreien, doch kein Ton kam über seine Lippen. ”Nein!” ächzte Damiano endlich und riß in Erkenntnis der Tatsachen seine Augen entsetzt auf. ”Das ... kann nicht sein. Es ist nun siebzehn Jahre her. Sie müßte .... viel älter sein!” brachte er unter Aufbringung seiner letzten Kräfte heraus. ”Lerne, daß nichts unmöglich ist, Kajus.” Noctuna zog unvermittelt ihre Krallen aus seinem Kopf, und er brach vollends zusammen. Noctuna bückte sich zu dem weinenden Mann hinunter, schloß ihn in ihre Arme und wiegte ihn wie ein kleines Kind. Sacht und tröstend streichelte sie über seine nassen Haare. ”Was soll ich für Euch tun?” keuchte der Hoendis nach einer Weile. ”Nun, höre mir gut zu, dann will ich es dir verraten. Als erstes suche dir jemanden aus, auf den ich deinen Schmerz übertragen kann. Du hast die freie Wahl.” \ ”Kore! Schnell!” Raja stürmte aufgeregt in die kleine Therme der Schwesternschaft. ”Was hat dich so aufgebracht ...!” Kore Hijklmnopqrsb PQRS\abcdefij Gesprengte Ketten Seite 15 hatte sich aus ihrem Bad erhoben, und noch ehe Raja ihr darauf Antworten konnte, stürmten einige Legionäre hinter ihr in das Bad. Raja sah sich ängstlich um, ergriff ein Badetuch und reichte es Kore. Als der Hoendis hinter den Olan auftauchte, blieb er für einen Augenblick stehen und sah sich um. Er fixierte die Priesterin, welche sich hastig ein Tuch um den Körper schlang, mit seinen Augen und schritt durch die Reihen seiner Männer. ”Wie könnt Ihr es wagen ...” begann Kore. ”Meine Liebe”, spottete Mamercus. ”Etwas mehr Respekt vor der Obrigkeit würde Euch besser zu Gesicht stehen. Vor allem, wenn man bedenkt, in welche Lage Ihr Euch gebracht habt, nicht wahr?” ”Ich denke, ich kann Euren Worten nicht ganz folgen ...” verwirrt blickte Kore den Hoendis an. ”Wirklich nicht? Nun -,” dabei griff er unter seine Rüstung und zog ein Pergament hervor, ”in meinen Händen halte ich den Befehl, einige Eurer Schwestern in Gewahrsam zu nehmen.” Er hatte den D’ascas leicht durch seine gefälschten und erkauften Beweise davon überzeugen können, das es das Beste wäre, einige Schwestern festzunehmen. ”Das könnt Ihr nicht.” stöhnte Kore. ”Nein? Ich denke schon.” Wie zur Antwort hörte man das Geschrei von Frauen in den Raum schallen. Kore sah zu Raja, dann auf den Hoendis. ”Was wird ihnen vorgeworfen?” ”Die Ausführung priesterlicher Handlungen, außerhalb der dafür vorgesehenen Zeiten. Heimliche Zusammenkünfte mit anderen Ordensgemeinschaften. Aufrührerische Hetztiraden gegen den Staat. Soll ich weiterlesen?” amüsiert betrachtete er die Priesterin. ‘Sie ist wirklich schön, wenn sie wütend ist.‘ Dies war ihm schon öfters aufgefallen. ‘Es ist schon fast bedauerlich, daß meine Wahl auf dich gefallen ist.‘ ”Diese Anschuldigungen sind vollkommen haltlos. Niemand aus unserem Orden würde ...” Erneut unterbrach Mamercus die Frau. ”Schttt.” Dabei legte er einen Finger auf seine Lippen und lächelte. ”Keine Lügen, meine Liebe. Sonst landet Ihr auch noch im Kerker.” Seine Augen funkelten boshaft auf. Abrupt drehte er sich um und bellte seinen Soldaten einige Befehle zu. Zwei davon ergriffen Raja, welche sich heftig wehrte, und zusammen mit dem Rest der Olan verschwand sie aus dem Raum. Die Tür schloß sich mit einem lauten Knall. Mamercus ging um das kleine Becken herum, watete in das Wasser hinein und blieb hinter Kore stehen. ”Und das wollt Ihr doch nicht, habe ich Recht?” Mit einem Finger fuhr er über ihren Nacken. Bald schon würde er wissen, ob sich die Agia noch in dieser Gegend aufhielt. Die Frau bebte Innerlich vor Zorn. Was bildete sich dieser Kerl bloß ein? Aber was sollte sie tun? Heute nahm er nur einige der Frauen mit, was machte er mit ihnen allen, wenn er erfahren würde, das der Orden tief im Widerstand eingebunden war? Wenn man entdecken würde, daß sie der immer noch gesuchten Agia half? Mit einem Ruck riß er ihr Tuch herunter. ”Nennt mir nur einen plausiblen Grund, warum ich Euch nicht auch mitnehmen soll.” \ Aufgeschreckt durch die Schreie in ihrem Traum erwachte Fedora. Hastig Hijklmnopqrsb PQRS\abcdefij Gesprengte Ketten Seite 16 wischte sie sich den kalten Schweiß von der Stirn und sah sich benommen um. Vor lauter Müdigkeit mußte sie über dem sortieren der Nachrichten und dem erstellen neuer Angriffe auf die Truppen der Legionäre eingenickt sein. Sie griff unter den Tisch und zog eine Flasche Maisschnaps hervor. Als sie Schritte hörte, welche sich ihrem Zelt näherten, verkorkte sie die Flasche schnell wieder und stellte diese hastig zurück. ”Ist alles in Ordnung mit dir?” Arnoldos Stimme klang besorgt, als er mit gezogener Waffe in ihrem Zelteingang erschien. ”Warum sollte es nicht so sein?” ”Weil du geschrien hast.” ”Das habe ich nicht.” “Es ist gut, ihr könnt gehen.” meinte Arnoldo zu den Männern, welche sich hinter ihm befanden. Dann trat er ein und kam näher. “Solltest du dir nicht ein wenig Erholung gönnen? Was nützt du uns, wenn du Tag und Nacht arbeitest. Du wirst dich nicht mehr vernünftig auf deinem Pferd halten können, wenn wir zu unserem nächsten Überfall aufbrechen ...” “Sag, geht es Kore und den Schwestern gut?” fragte sie ihn unvermittelt. ”Aber natürlich. Komm, leg dich hin und versuche, zu schlafen.” ”Nein, danke.” Fedora lächelte Arnoldo an. “Ich habe noch zu viel zu tun.” Er bemerkte, das sie zitterte, ergriff eine Decke und legte diese um ihre Schulter. ”Hast du was getrunken?” Er blickte ihr tief in die geröteten Augen. ”Wie kommst du den darauf?” Fedora drehte sich von ihm weg und starrte auf das Papier, welches vor ihr lag. Die Buchstaben tanzten auf und ab. ”Meinst du wirklich, im Konvent ist alles in Ordnung?” Sie fuhr sich hastig mit einer Hand über die Augen. ”Ja. Natürlich.” ”Arnoldo. Ich weiß nicht. Sollten wir nicht besser nach dem Rechten sehen? Ich habe so ein ungutes Gefühl ...” ”Morgen in aller Frühe mache ich mich auf den Weg.” “Hast du noch den Brief?” Er klopfte sich auf seine Jackentasche. “Aber natürlich.” “Das ist gut ... verliere ihn nicht ....” “Es wäre wirklich besser, du würdest etwas ruhen.” meinte Arnoldo besorgt. “Später. Es gibt noch so viel zu erledigen ... und ich habe keine Zeit ...” murmelte Fedora, welche nun mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein schien. Emsig sortierte sie einen Stapel nach dem anderen, schob Karten hin und her und fuhr nervös mit den Fingern darüber, als würde sie etwas bestimmtes suchen. Dann blickte sie kurz auf und tat so, als würde sie Arnoldo nun erst bemerken. “Kann ich etwas für dich tun?” “Nein, kannst du nicht.” antwortete er matt. “Mmmmh, gut, gut ... Und du kümmerst dich Morgen darum ...?” “Aber natürlich. Ich werde nach dem Rechten sehen, das Verspreche ich dir.” Er schüttelte beunruhigt seinen Kopf. Etwas stimmte mit Fedora überhaupt nicht. “Mmmmh, ja ... Danke.” Und schon wühlte sie erneut auf dem Tisch herum. Draußen angekommen, atmete Arnoldo tief durch und rieb sich mit den Fingern über seine müden Augen. Die Anstrengungen der letzten Wochen waren auch an ihm nicht spurlos vorüber gegangen. Besonders schlimm war es aber seit Gaetanos Fortgang. Diese Entscheidung hatte Fedora tiefer getroffen, als sie sich selber eingestehen wollte. Jeder Tag an ihrer Seite war wie der Tanz auf einem Hijklmnopqrsb PQRS\abcdefij Gesprengte Ketten Seite 17 Vulkan der kurz vor dem Ausbruch stand. Schlaf. Ja, ein paar Stunden Schlaf würden ihm bestimmt auch guttun. Nachdem Arnoldo sie verlassen hatte, zog Fedora erneut die Flasche hervor und gönnte sich einen langen, tiefen Schluck. Es war besser, die Sinne zu betäuben, als sich nüchtern dem Schrecken zu stellen. “Verschwindet aus meine Kopf,” bettelte sie flüsternd. “Warum laßt ihr mich nicht endlich in Ruhe?” Die Stimmen wurden lauter und schienen nun alle gleichzeitig loszuplappern. \ Arnoldo hatte sich, wie versprochen, am nächsten Tag auf den Weg nach Tizio gemacht. Sofort suchte er das Konvent auf und fand alle in heller Aufregung vor. Mit Kore war nicht zu sprechen, sie schien abwesend, murmelte unverständliche Zeug und weinte immer wieder hemmungslos. Der Mann erfuhr aber wenigstens, das die Truppen der Legion etwa zwanzig Frauen festgenommen hatten. Die verbliebenen Priesterinnen mußten fort, ein Hierbleiben war einfach zu riskant. So schnell als möglich mußte er mit Gaetano reden, dieser würde schon wissen, wie man das am besten erledigen konnte. Welch ein Glück, daß Arnoldo sich für heute mit ihm verabredet hatte. In Regelmäßigen Abständen berichtete ihm der junge Mann das neuste von der ‘Lilie‘ und war froh über jeden Rat, der ihm gegeben wurde. Leider hatte er Gaetano bis jetzt noch nicht zu einer Rückkehr bewegen können. Arnoldo gab Raja noch schnell einige Anweisungen und das Versprechen, sich um alles weitere zu kümmern, dann eilte er davon. \ ”Lilie. Hier ist eine Nachricht für Euch.” Diego überreichte der Frau das versiegelte Pergament. Fedora nickte und gab dem Mann zu verstehen, daß er sie alleine lassen sollte, zerbrach dann das Siegel und las. Wir müssen uns dringend sehen. Kommt heute Nacht zu Brunnen am Markplatz. Zur Stunde der ‘Nicht Schlafenden.‘ M. Sie stand auf und ging nach draußen. “Diego!” rief sie. Der Mann erschien sofort, als hätte er nur auf einen Befehl von ihr gewartet. “Ja, Lilie?” “Ich brauche mein Pferd. Sofort. Du wirst dich hier um alles weiter kümmern. Achte darauf, das die Männer rechtzeitig loskommen, sonst verpassen sie noch unsere kleine ‘Lieferung‘.” Sie überreichte Diego eine Karte. “Hierauf ist verzeichnet, wohin die Ware gebracht werden soll. Matteo ist ansonsten über alles weitere unterrichtet.” “Natürlich, ich habe verstanden.” Fedora hatte sich herumgedreht und wollte gerade ihr Zelt betreten, um ihre Sachen zu holen, als Diego sie noch einmal ansprach. “Wann kommt Ihr zurück?” Sie schloß ihre Augen und überlegte einen Moment lang was sie darauf antworten sollte. Ihre Finger verkrampften sich so fest in der Zeltplane, daß ihre Knochen weiß hervortraten. “Ich weiß es nicht, Diego ... ich ... weiß es wirklich nicht.” meinte sie leise und voll düsterer Vorahnungen.