Eine Geschichte – Wie so viele Andere auch....

Aus Xidurianische unabhängige Bibliothek
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NOCHT NICHT FORMATIERT

Debora Jarosch, März 2006

Es war ein strahlend schöner Tag. Die Sonne schien von einem makellos blauen Himmel, der sich von einem Horizont bis zum nächste erstreckte, ein azurfarbener Dom über dem Land. Cusirimay blinzelte besorgt in diese blaue Kuppel hinauf, ihre Augen mit einer Hand abschirmend. Weit und breit kein Fetzen eines auch noch so winzigen Wölkchens zu sehen. Wenn das so weiter ging, dachte die Kräuterfrau des ChincheDorfes Quahopetl, das am Fuße des gleichnamigen Berges lag, würden sie alle im nächsten Winter hungern und die meisten sterben. Die Ernte war jetzt schon fast verwelkt, nur noch wenige Tage, und sie wäre vollkommen verdorrt. Die Quelle, die den Bewohnern des kleinen Dorfes ihr Trinkwasser gab und in deren kleinen Teich sie zu baden pflegten, wäre selbst in besseren Tagen nicht ausreichend, um die Felder zu bewässern – und jetzt war sie schon so gut wie versiegt. Nein, korrigierte sich Cusirimay, sie würden nächsten Winter nicht verhungern. Wenn es nicht bald regnete, würden sie alle schon lange vorher verdurstet sein. Die Kräuterfrau, die auch als Hebamme des Dorfes arbeitete, strich sich über ihren schwellenden Bauch. Was würde aus ihrem ungeborenen Kind werden? Erst vor fünf Monden hatte sie ihrem Herrn und Gemahl, dem Dorfhäuptling Hualpa, die freudige Nachricht mitgeteilt, daß sie ihm vor Ablauf des Jahres ein Kind schenken würde. Sein Erstgeborenes, denn obwohl Hualpa und Cusirimay hohe Stellungen im Dorf bekleideten und die anderen jungen Frauen und Mädchen Cusirimay „Mamacona“ nannten, was so viel bedeutete wie „Erwählte Mutter“, waren beide doch noch jung und hatten bisher keine Kinder. Nein, sie mußte sich mit Hualpa beraten. Die Götter mußten ihnen sehr zürnen, wenn sie ihnen den Regen vorenthielten und sie somit alle zum Tode verdammten. Ein Opfer würde erbracht werden müssen, um Malinalhuatl, die Göttin der Pflanzen und der Ernte, zu bewegen, ihren Bruder Mixcuhtli, den Gott des Regens, wieder gewogen zu stimmen, auf daß er ihnen Regen senden und sie alle retten möge. Fest umklammerte sie das Amulett, welches ihr ihre Mutter kurz vor ihrem Tod geschenkt hatte. Sie wußte nicht genau, was es damit auf sich hatte, jedoch hatte sie stets das Gefühl, daß es sie beschützt hatte, und auch ihre Mutter hatte es immer wie einen Schatz gehütet. Eines Tags würde sie es an ihre Tochter weitergeben. Wenn sie jemals eine Tochter haben würde, die das Erwachsenenalter erreichte.... Am nächsten Morgen, der genauso strahlend und wolkenlos war wie alle Morgende seit vielen Wochen, verabschiedete der besorgte Hualpa seine weinende Frau Cusirimay, die sich auf den Weg zum Altarstein Malinalhuatls machte. Sie würde die Hälfte des Vormittags benötigen, um dorthin zu gelangen. Als er ihr noch einmal durch ihr schwarzes glänzendes Haar strich, zeugten seine Züge von einer Bitterkeit, die noch keiner der anderen Dorfbewohner je an ihm gesehen hatte. Alle waren sie gekommen, um Mamacona zuzusehen, wie sie sich alleine auf den schwierigen Weg zu Malinalhuatls Altarstein machte, der genau in der Mitte einer grünen, schattigen, geheimnisvollen Oase des Dschungels lag, die sich wie ein FremdHijklmnopqrsb PQRS\abcdefij Gesprengte Ketten Seite 3 körper auf der sonst spärlich bewachsenen Ebene erhob. Jeder hier glaubte fest daran, daß der Dschungel dort gewachsen war, um Malinalhuatls Altarstein zu beschützen, ihm Schatten und Feuchtigkeit zu spenden. Die Alten sagten, es wäre ein natürlicher Tempel für Malinalhuatl. So klein war dieser TempelDschungel, daß man ihn in strengem Lauf in zwei Tagen umrunden konnte. Leider jedoch, sagten die jungen Leute, war dieser Dschungel nicht groß genug, um das Dorf zu ernähren. Die Alten schlugen, wenn sie die Jugend so reden hörten, stets ein Zeichen gegen Unheil über ihren ergrauten Häuptern – sie wären nie auf die Idee gekommen, etwas zu essen, das in einem Tempel der Götter wuchs. Cusirimay konnte den Weg kaum sehen, zu sehr verschleierten Tränen ihre Augen, doch als sie sich langsam und vorsichtig in Richtung ihres Schicksals bewegte, beruhigte sie sich auch zunehmend wieder. Sie konnte es nicht ändern. Ein Opfer mußte gebracht werden, und dieses Opfer, so hatte der Häuptling zusammen mit den Dorfältesten beschlossen, mußte ein Kind des Häuptlings sein. Alles andere wäre eine Beleidigung für die Götter. Doch da er noch kein Kind hatte, das bereits atmete und das Licht der Sonne sah, würden sie ein Versprechen abgeben, ein Versprechen, das nur die Mutter des ungeborenen Kindes selbst geben konnte. \ Im Dschungel angekommen, der ebenfalls die Zeichen einer zu langen Dürre trug, bewegte sich die Kräuterfrau vorsichtiger, als zuvor. Viele Gefahren lauerten hier, und ihr durfte kein Fehler unterlaufen. Nichts durfte das Opfer gefährden, von dem das Leben ihres Dorfes abhing. Gerade, als sie die helle Linie des Waldrandes nicht mehr sehen konnte und von allen Seiten von dem dämmriggrünen, unwirklichen Licht umgeben war, das durch die Blätter der Pflanzen herunterfiel und nichts weiter hörte als die vielfältigen und seltsamen Geräusche des Dschungels, fand sie ihn – den alten, von Schlingpflanzen überwucherten Altarstein von Malinalhuatl, die alte Opferstätte. Die Zeichen auf dem Stein waren von der ständigen Feuchtigkeit und dem Alter so verwittert, daß sie sie nicht erkennen konnte, auch die Statue, die über den Altarstein wachte, war so verwaschen, daß man sie kaum noch erkennen konnte. Doch sie wußte, daß ihre Vorfahren hier der Göttin geopfert hatten. Langsam, mit zittrigen Händen und erneut weinend, legte die junge Frau, die gerade 19 Sommer zählte, ihr Schultertuch ab, in dem sie mitgebracht hatte, was sie benötigen würde. Sie befreite zunächst den Altarstein von den Schlingpflanzen, jedoch nur so weit, wie es nötig war, um das Ritual durchführen zu können. Dann arrangierte sie auf der für einen verwitterten Stein viel zu glatten Oberfläche die vorläufigen kleinen Opfergaben, die dem Dorf in seiner momentanen Situation genauso teuer waren, wie ein richtiges Opfer: zwei der letzten Maiskolben, einige Potatos, die letzten Blüten, die sich trotz der Dürre noch gezeigt hatten. Sie zündete in der dafür vorgesehenen Mulde ein kleines Feuer an, wobei sie sehr vorsichtig vorging, um den trockenen Wald nicht in Brand zu setzen, und goß etwas von ihrem kostbaren Trinkwasser in eine andere Mulde – diejenige, in der für gewöhnlich bei Opfern das Blut gesammelt wurde. Dann zündete sie einen wohlriechenden Strang aus getrockneten Lianen an, um die Göttin mit deren Wohlgeruch zu erfreuen, und legte ihr Opfermesser bereit. Hijklmnopqrsb PQRS\abcdefij Gesprengte Ketten Seite 4 Wohl fühlte sich Cusirimay nicht, oh nein. Doch ihr Dorf hatte keinen Sumi mehr, seit der alte Surandaman letzten Winter gestorben war und keinen Nachfolger hinterlassen hatte, also mußte sie es selbst tun, nicht davon überzeugt, daß sie es richtig machte, doch mit der Intensität und dem Verlangen der Verzweiflung. Sie kniete sich vor den Altarstein, hob die Hände zum dunkelgrünen Blätterhimmel, legte den Kopf mit geschlossenen Augen in den Nacken und betete laut, mit fester Stimme: Malinalhuatl, du unsere Schutzherrin der Pflanzen und der Ernte, erhöre mich, deine Dienerin! Unser Dorf stirbt, wenn du mich nicht erhörst! Ich flehe dich an, unsere Schutzherrin, hilf uns! Stimme deinen Bruder, Mixcuhtli, gnädig, auf daß er uns Regen schicken möge, damit unsere Ernte nicht vertrockne! Ich flehe dich an, Malinalhuatl, hilf uns! Wir sind arm, doch bringen wir dir hier, was uns zur Zeit am kostbarsten ist, auf daß du uns erhören mögest! Doch dies ist nur eine kleine Gabe im Vergleich zu unserer Bitte. Ich flehe dich an, Malinalhuatl, erhöre mich! Erhöre mich, und ich werde dir mein ungeborenes Kind schenken, jenes, welches sich im meinem Leib befindet! Hilf uns, und ich werde, sobald es auf der Welt ist, hierher zurück kommen und es dir opfern! Malinalhuatl, erhöre mich! Rette uns! Als Pfand für mein Versprechen gebe ich dir etwas von meinem Blut, das auch das Blut des Kindes ist, auf daß es schon jetzt dir gehören möge, bis zu dem Tag, an dem ich zurück kehre, um es dir zu opfern! Malinalhuatl, unsere Schutzherrin, ich bitte dich, nimm mein Opfer an! Sogleich, bevor sie darüber nachdenken konnte, nahm Cusirimay das Opfermesser und schnitt sich tief in ihren linken Handballen. Sie zischte vor Schmerz laut durch ihre zusammengebissenen Zähne, hielt die Hand dann aber zunächst über die Vertiefung mit dem Wasser, ließ dort einiges von ihrem Blut hinein laufen bis das Wasser rot war und hielt die Hand sodann über das kleine Feuer, in dem das Blut zischend verdampfte und einen süßlichen Geruch aufsteigen lies, bis es das Feuer letztlich löschte. Dann zog sie ihre Hand zurück, neigte ein letztes Mal ehrfürchtig das Haupt, und rutschte daraufhin zur Seite, dorthin, wo ihr Schultertuch lag, um sich mit mitgebrachten Umschlägen und Pflanzenfasern die Wunde zu verbinden. Während sie das tat, kam ihr zu Bewußtsein, was sie getan hatte, und der Schmerz überwältigte sie. Sie hatte ihr ungeborenes Kind dem Tode geweiht! Sie wußte, dies war notwendig, sie wußte, daß es schon immer so gemacht worden ist und auch immer so gemacht werden würde, sie wußte, die einzige Opfergabe, die die Götter wahrlich milde stimmte, waren das Blut und das Leben eines kräftigen, gesunden Menschen. Doch hatte sie nicht gewußt, wie sehr dies trotz der Gewißheit der Notwendigkeit schmerzen würde. Von Weinkrämpfen geschüttelt, sank sie zur Seite und blieb so dort liegen, bis der Regen einsetzte, zunächst nur schwach auf die oberen Blätter des Dschungeldachs klopfend, doch dann stärker, fordernder, den lechzenden Boden benetzend, auch auf ihrem Gesicht landete. Erstaunt setzte sie sich auf. Sie hatte es Hijklmnopqrsb PQRS\abcdefij Gesprengte Ketten Seite 5 richtig gemacht. Malinalhuatl hatte ihr Gebet erhört und Fürsprache für das Dorf bei ihrem Bruder, dem Regengott Mixcuhtli, eingelegt, und dieser hatte den Regen geschickt. Ihr Kind würde sterben, aber das Dorf würde leben. Langsam und wie betäubt sammelte sie ihre Sachen ein, reinigte den Altar und machte sich auf den Weg zurück nach Quahopetl, das, dank ihres bevorstehenden Opfers, nun weiter existieren würde. \ Fünf Monde später: Es war soweit. Cusirimay hatte vor wenigen Tagen eine wunderschöne kleine Tochter zur Welt gebracht. Hualpa und sie konnten sich jedoch gar nicht so recht freuen, denn jedes Geräusch, das die Kleine von sich gab, jede Bewegung, die das Baby machte, das erste Mal, bei dem sie von der Brust ihrer Mutter trank, all die kleinen Dinge, die junge Eltern sonst so in Entzücken versetzten, riefen bei diesen beiden nur bittersüße Gedanken hervor, je mehr sich Cusirimay erholte, desto bitterer. Sie würden nicht sehen, wie ihre Tochter aufwuchs, sie würden nicht erleben, wie sie ihr erstes Wort sprach, sie würden nicht bei ihrer Hochzeit dabei sein und sie würden nie ihre Enkelkinder zu Gesicht bekommen. Das Mädchen hatte nicht einmal einen Namen bekommen, denn sie würde nicht lange leben. Sie war als Opfer für Malinalhuatl bestimmt. Als Cusirimay wieder kräftig genug war, um eine Reise anzutreten, wurde sie erneut von den Menschen ihres Dorfes und ihrem Mann, dem Häuptling Hualpa, verabschiedet, noch trauriger als zuvor, doch niemandem wäre es im Traum eingefallen, das notwendige Opfer in Frage zu stellen. Diesmal war der Himmel nicht strahlend blau, sondern Wolkenverhangen. Die Regenzeit war eingetroffen, und nun gab es eher zu viel als zu wenig Wasser. Von den Feldern stieg dampfende Feuchtigkeit auf, denn die allgegenwärtige Wärme verwandelte diese Gegend von Xiduria jedes Jahr zu dieser Zeit in einen Dampfkessel. Es ist, als ob Malinalxochtil und Mixcuhtli mein keines Mädchen erwarten würden, dachte Cusirimay, als sie die tief hängenden, bedrohlichen Wolken betrachtete, als würden sie ihre göttlichen Arme ausstrecken, um sie in Empfang zu nehmen. Wäre es doch nur so! Würden die Götter sie doch einfach aus meinen Armen reißen! Müßte ich ihr doch nicht selbst das Messer in die winzige Brust stoßen.... Das Baby gluckste vergnügt vor sich hin, als Cusirimay den Dschungel betrat, und die Tränen ihrer Mutter vermischten sich mit dem Regen und fielen dem kleinen Mädchen ins Gesicht. Als Cusirimay erneut bei dem alten Altarstein angekommen war, der nun – im Gegensatz zu ihrem letzten Besuch – dunkel vom Regen und schlüpfrig war wie von Blut, fragte sie sich, wie sie in dieser Feuchtigkeit ein Feuer entzünden sollte. Sie legte das Baby vorsichtig ab und machte sich an die Vorbereitungen. Kurze Zeit später hatte sie es geschafft – der Altar war gereinigt und ein kleines Feuer brannte, gelegentlich zischend, wenn aus dem dichten Blätterdach, das den Regen größtenteils abhielt, ein Tropfen herunterfiel. Keine Blüten, keine Früchte des Feldes schmückten den Altar dieses Mal. Der einzige Schmuck, der bei dieser Opferung gebraucht wurde, war das Opfer selbst, Cusirimays kleines Mädchen. Als die Kräuterfrau das Baby aus ihren Decken heraushob und auf den ungewöhnlich warmen Altarstein legte, spürte sie eine gewisse Beunruhigung. Irgend etwas fühlte sich seltsam an, anders, als beim letzten Mal. Doch sie hatte keine Hijklmnopqrsb PQRS\abcdefij Gesprengte Ketten Seite 6 Zeit und Muße, sich darüber Gedanken zu machen. Auch das Baby spürte wohl, daß etwas bevorstand, das nicht gut für sie war, und so begann es, leise zu wimmern. Cusirimay versuchte, es zu beruhigen, legte den Opferdolch mit zitternden Händen bereit und erhob wieder einmal die Arme zum Gebet. Malinalhuatl, fünf Monde ist es her, daß ich dich hier aufsuchte und um Hilfe für mein Dorf bat! Fünf Monde, daß du mein Flehen erhörtest und gemeinsam mit deinem Bruder Mixcuhtli unsere Ernte und somit unser Dorf errettet hast! Oh Göttin, nun bin ich hier, um das mit Blut gegebene Versprechen auch mit Blut einzuhalten! Hier liegt meine Tochter vor dir auf deinem Altar, meine Tochter, deren Blut ich dir versprach als Opfer für deine Hilfe! Malinalhuatl, hier bin ich, um mein Versprechen zu halten! Nimm das Blut und das Herz meiner Tochter an dich, auf daß es dir zum Gefallen dienen möge und mein Dorf immer dieses Opfers gedenken mag! Mit diesen Worten sollte sie eigentlich ihre nun schrecklich zitternde Hand, die den Dolch über dem Baby hielt, hernieder sausen lassen, in den Brustkorb ihres kleinen Babys, um ihr kleines Herz zu Tage zu fördern und im Feuer zu verbrennen. Sie mußte ihre zweite Hand hinzunehmen, da sie so stark zitterte. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn sie das Opfer falsch darbrachte. Malinalhuatl würde sie bestrafen, und das fürchtete sie noch mehr, als den Tod ihrer Tochter. Doch selbst beide vereinten Hände konnten das Messer nicht abwärts bewegen. Das Baby hatte aufgehört zu wimmern, und sah seine Mutter mit großen runden Augen an. Dieser lief der Schweiß das Gesicht herunter, doch sie konnte sich nicht bewegen, so sehr sie es auch versuchte. Plötzlich hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf. Es war eine rauhe Stimme, dunkler als sie von einer Göttin erwartet hatte, und sie hatte einen grausamen Unterton. Töte sie nicht. Ihr Leben gehört mir! Ich werde mit ihr verfahren, wie mir beliebt. Zieh sie auf, deine Tochter. Ich werde sie mir nehmen, wenn ich es möchte. Und dann, im Anschluß an diesen Satz, der Cusirimay eine Gänsehaut verursachte und ihr das Haar zu Berge stehen ließ, kam eine zweite Stimme, die ganz anders war, heller, weiblicher, jedoch von Ärger und auch Mitleid durchzogen: Ich gebe ihr das Geschenk des Wachstums, meine eigene Gabe. Möge es ihr zum Nutzen gereichen. Sie soll leben, und so soll es sein. Plötzlich konnte die Chinche-Frau sich wieder bewegen und die Anspannung, die sie die ganze Zeit in ihren Armen hatte, gerade noch abwenden, so daß der Opferdolch nicht in die Brust ihrer kleinen Tochter fuhr, sondern neben ihr auf dem Altarstein auftraf und zersplitterte. Cusirimay ließ den Dolch mit der zerstörten Klinge fallen wie eine giftige Viper. Irgend etwas, das wußte die Hebamme, war hier passiert, das nicht vorgesehen war. Irgend etwas war schief gelaufen. Warum hatte sie zwei verschiedene Stimmen gehört? Und, was noch wichtiger war: Warum wollten die Götter kein Blut? Doch sie konnte ihre kleine Tochter behalten! Sie mußte ihr Kind nicht töten und ausbluten lassen, sie konnte sie aufwachsen sehen! Hijklmnopqrsb PQRS\abcdefij Gesprengte Ketten Seite 7 Die Freude über diese Wendung überlagerte die Furcht vor den fremdartigen Geschehnissen, und ohne den Altar zu reinigen oder auch nur das Feuer zu löschen, raffte sie ihre Tochter und ihre Habseligkeiten ins Schultertuch und flüchtete aus dem Wald, um nie mehr dorthin zurück zu kehren, so lange sie lebte. \ Hualpa und Cusirimay nannten ihre Tochter aus Ehrfurcht vor der Göttin, die sie verschont und gesegnet hatte, Malinali. Die Zeit verging, und Malinali wuchs zu einem fröhlichen Mädchen heran, bescheiden und stets gefällig, das die seltene Gabe hatte, Pflanzen wachsen zu lassen. Wo auch immer sie eine Pflanze berührte, pflegte oder ihr Aufmerksamkeit schenkte, wuchs und gedieh alles Grün. Das Dorf wurde im Laufe der Zeit sehr wohlhabend, fiel doch keine Ernte mehr aus und waren die Maiskolben ihrer Felder größer, als alle der umliegenden Dörfer. Niemals fiel eine Schädlingsplage über ihre Äcker her, und mit der Zeit verblaßte die Erinnerung an die seltsame Opferung, die nicht stattgefunden hatte. \ 16 Jahre später Quahopetl hatte sich von einem kleinen armseligen Dorf in ein wohlhabendes kleines Städtchen verwandelt. Der Handel mit den umliegenden Dörfern blühte, nirgends wuchs besserer Mais, als hier, nirgends war die Ernte üppiger. Diese Entwicklung war auch an den Bewohnern von Quahopetl nicht spurlos vorüber gegangen. Ihre Lehmhütten waren Häusern aus gebrannten Ziegeln gewichen, die Wege zwischen den Häusern waren festgestampft und mit Binsen bestreut, die Kleidung war wohlhabender, da sie durch Handel hervorragende Stoffe erwerben konnten. Auch ein Sumi hatte wieder Einzug gehalten und einen kleinen Schrein im Dorf gegründet. Inzwischen war auch die Familie des Häuptlings gewachsen – Malinali hatte nun zwei Brüder und drei Schwestern, und zusammen mit diesen war sie die ganze Freude ihrer Eltern. Wenn auch nicht ausschließlich, so verdankte das Dorf doch viel von diesem Wohlstand dem Mädchen Malinali, der erstgeborenen Tochter ihres Häuptlings Hualpa und der Kräuterfrau und Hebamme Cusirimay, und dem entsprechend erfreute sich Malinali größter Beliebtheit und genoß hohes Ansehen im Dorf. Auch die Tatsache, daß sie ein hübsches, freundliches und höfliches Mädchen war, sorgte dafür, daß sie stets in jedem Haus gern gesehen war. Wenn die Dorfbevölkerung auch nach der Rückkehr der Hebamme aus dem Dschungel zunächst alles andere als überzeugt davon gewesen war, daß Cusirimay wirklich die Stimmen gehört hatte, die ihr geboten, Malinali zu verschonen, so zweifelte doch inzwischen niemand mehr daran. Der Segen der Götter mußte auf Quahopetl liegen, das war allen klar. Cusirimay bildete Ihre Tochter zu ihrer Nachfolgerin aus, und jetzt, in Malinalis 16. Sommer, wurde in vielen der Familien des Dorfes bereits eifrig darüber nachgedacht, für welchen jungen Mann des Ortes sie die beste Ehefrau sein könne, doch ihre Eltern wollten noch nichts davon hören. Denn da war Etwas, von der nur ihre eigene Familie etwas wußte, und niemand war sich darüber im Klaren, ob dies eine gute oder eine schlechte Sache war. Seit ihrem 12. Sommer wandelte Malinali im Schlaf. Es war nicht in regelmäßigen Abständen der Fall, geschah auch nicht sehr oft, doch plötzlich war sie Hijklmnopqrsb PQRS\abcdefij Gesprengte Ketten Seite 8 des Nachts verschwunden, und niemand wußte, wohin sie ging, niemand hatte sie je gehen sehen. Morgens war sie stets wieder in ihrem Bett, doch sie konnte sich nie erinnern, was passiert war, noch, daß sie wach gewesen sein sollte. Da jedoch nichts weiter geschehen war, hatte man es geheim gehalten, um niemanden zu beunruhigen. Jetzt jedoch änderte sich etwas daran. Wieder einmal war Malinali verschwunden, doch diesmal lag sie nicht am nächsten Morgen im Bett, wie üblich, sondern blieb aus. Niemand hatte sie gesehen, niemand wußte, wo sie war. Besorgt organisierte Hualpa, ihr Vater, eine Gruppe von Männern, welche die Felder und die umliegende Gegend absuchen sollten. Doch beim ersten groben Absuchen und Rufen nach Malinali wurden sie nicht fündig. \ Zu selben Zeit im Dschungel Malinali erwachte und fühlte sich furchtbar. Ihr Kopf dröhnte, sie hatte einen metallischen Geschmack im Mund, und alle Gliedmaßen taten ihr weh. Ohne die Augen zu öffnen, strich sie sich über die Stirn – und schreckte hoch, denn etwas Klebriges befand sich an ihren Fingern. Sie öffnete die Augen, betrachtete ihre Hand und sah – Blut. Über und über waren ihre Hände in Blut getaucht, bis zu den Ellbogen war die rostbraune Farbe von getrocknetem Blut verteilt. Sie schrie panisch auf und sprang auf, sich selbst untersuchend, doch sie fand keine Wunde an ihrem Körper, aus dem das Blut gekommen sein konnte. Mehr noch – sie trug einen leuchtend blauen Poncho aus einer hochwertigen, feinen Wolle mit Mustern und Verzierungen eingewebt, den sie nicht kannte, noch nie gesehen hatte. Dieser Poncho war unbefleckt. Jetzt erst sah sie sich um. Sie war im Dschungel! Um sie herum nur ein grünes Blätter- und Pflanzenmeer. Und vor ihr – vor ihr stand ein Altar. Er war alt, die Zeichen sowie die dahinter stehende Götterstatue waren so verwaschen, daß man nicht mehr erkennen konnte, welchem Gott diese Opferungsstätte geweiht war. Er war an den Seiten mit Schlingpflanzen überwuchert, doch die Oberfläche...... Malinali trat näher an den Altar heran, verschreckt und jederzeit fluchtbereit. Langsam, wie im Schlaf, streckte sie ihre blutverschmierte Hand aus und berührte die dunkle, glänzende Oberfläche des Steins. Sie war glitschig, klebrig und feucht. Als sie ihre Finger an ihre Augen heran hob, sah sie, daß es halb geronnenes Blut war. Sie sprang erschrocken einen Meter rückwärts. Der ganze Altar war voller Blut – hier hatte eine Opferung stattgefunden. Nun war das für sie etwas relativ normales, da sie wußte, daß die Götter Blutopfer wollten. Doch was hatte sie damit zu tun? Warum war all das Blut an ihr? Sie rannte davon, blindlings, panisch. Sie warf den seltsamen Poncho von sich wie eine Giftschlange und rannte, ohne darauf zu achten, wohin sie rannte. Immer weiter, nur fort von diesem Ort. Im Laufe ihrer kopflosen Flucht stolperte sie in einen kleinen Tümpel. Malinali hielt inne, und von dem Wunsch beseelt, dieses an ihr haftende Blut loszuwerden, fing sie an, sich wie wild zu waschen. Als sie einige Zeit später aus dem Tümpel stieg, war sie zwar vollkommen durchweicht, jedoch sauber. Einigermaßen beruhigt, versuchte sie, sich zu orientieren. Dort hinten wirkte der Dschungel etwas lichter, vielleicht ging es ja dort zum Dorf zurück.... sie machte sich auf Hijklmnopqrsb PQRS\abcdefij Gesprengte Ketten Seite 9 den Weg. Hinter einem der gigantischen Bäume stand ein alter dunkelhäutiger Mann mit vielen Narben und Tätowierungen am ganzen Leib und lächelte, nicht freundlich, sondern triumphierend. Als Malinali sich entfernt hatte, kam er hinter dem Baum hervor und hob den weggeworfenen Poncho auf. Ch’aska Manka würde ihn beim nächsten Mal wieder benötigen. Er war sich sicher, sie würde sich schon noch an ihre Bestimmung gewöhnen. ER hatte es versprochen. Die Weihe in der letzten Nacht hatte sie jedenfalls gut hinter sich gebracht. Endlich war Sternenkrug – Ch’aska Manka, SEIN Gefäß – bereit, zu tun, wozu sie bestimmt war. \ Wieder in Quahopetl Die suchenden Männer waren noch unterwegs, als Malinali wieder am Dorf auftauchte. Da das Haus ihrer Familie am Dorfrand stand, war es nicht schwierig, sich ungesehen hinein zu schleichen. Als sie jedoch versuchte, sich leise in ihr Zimmer zu begeben, um sich der nassen Sachen zu entledigen, wurde ihre Mutter aufmerksam, und kam nachsehen woher die Geräusche kamen. Wie überrascht war diese, ihre vermißte Tochter klitschnaß im Haus stehen zu sehen! Mutter und Tochter fielen sich in die Arme, von ganzem Herzen froh, wieder beisammen zu sein. Cusirimay war zunächst nur erleichtert, daß ihre Tochter heil und gesund wieder zu Hause war, doch schnell kamen Fragen auf, wo sie gewesen war und was passiert sei. Aus Malinali, die keine Geheimnisse vor ihrer Mutter kannte, so sehr liebten sie sich, sprudelte all das, an was sie sich erinnern konnte, hervor, froh, dieses unheimliche Erlebnis mit jemand teilen zu können, der sie nie verurteilen würde, das wußte sie. Doch Cusirimay war besorgt, sehr sogar. Sie verbarg ihre Besorgnis vor ihrer Tochter und versprach ihr leichtfertig, herauszufinden, was mit ihr geschah. In diesem Moment kamen die Männer zurück, die Malinali gesucht hatten. Alle waren sehr erleichtert, ihren kleinen Dorfschatz wohlauf vorzufinden, und auf Fragen, wo sie gewesen sei, erklärte Malinali mit unbekümmerter Miene, sie habe ein seltenes Kraut gesucht, das nur bei Mondschein blühte, und sei im Wald eingeschlafen. Alle bis auf ihren Vater gaben sich mit dieser Erklärung zufrieden, doch dieser sah, daß er in diesem Moment nicht die Wahrheit erfahren würde, und so schwieg er. Nächtelang lag Cusirimay auf der Lauer um mitzubekommen, sollte Malinali wieder im Schlaf zu wandeln beginnen, doch nichts passierte. Gerade, als sie schon aufgeben wollte, einen halben Mond später und mitten in der Nacht, bemerkte sie, wie Malinali erwachte und sich davon stahl. Lautlos, ohne ein Wort zu sagen, folgte Cusirimay ihrer Tochter. Wie verwundert war die Kräuterfrau, als die Spuren ihres ältesten Kindes sie zu genau dem Altarstein führten, auf dem sie damals geopfert werden sollte und verschont blieb! Vorsichtig, beobachtend, hielt sich die Hebamme in einem Busch versteckt, wo sie beobachten konnte, was dort vor sich ging, ohne selbst gesehen zu werden. Wie anders sah dieser Altar nun aus, als Cusirimay ihn in Erinnerung hatte. Die Schlingpflanzen, die ihn eingerahmt hatten, waren verschwunden, in einem großzügigen Umkreis um den Altar und die Statue herum war der Boden von allen Pflanzen und Stolpersteinen befreit. Der Altar war gereinigt worden, kein Moos haftete mehr an ihm. Auch war MaHijklmnopqrsb PQRS\abcdefij Gesprengte Ketten Seite 10 linali dort nicht allein. Ein Dutzend Männer und Frauen, alle mit rituellen Überwürfen und Bemalungen verziert, umringten den Altar, einige von ihnen hielten Fackeln. Nun trat einer von ihnen vor, ein alter Mann, über und über mit rituellen Narben bedeckt, einen leuchtend blauen Poncho vor sich haltend. Cusirimay beobachtete erstaunt, daß Malinali sich vor dem Mann verbeugte und zuließ, daß dieser ihr den Poncho überstreifte. Er sagte etwas in einer Sprache, die Cusirimay nicht verstand, doch als sie die umstehenden Menschen genauer betrachtete, wurde ihr eins klar: Dies war eine höchst seltsame Gruppe von Menschen. Es waren einige Chince unter ihnen, etliche Toquateken – was hatten sie so weit im Landesinneren, außerhalb ihrer Sümpfe, verloren? – und sogar einige aus dem Volk der Besatzer und Eroberer! Und was hatte ihre Tochter mit ihnen zu schaffen? Sie schienen auf sie gewartet zu haben... Gebannt sah die Kräuterfrau dem Geschehen weiterhin zu. Nachdem Malinali mit dem Poncho bekleidet worden war, reichte der alte Sumi – denn dafür hielt Cusirimay ihn – ihr ein recht großes Opfermesser, das ihre Tochter ruhig empfing. Sie stellte sich am Altar auf und wartete. Fast zu ruhig und unwirklich erschien Cusirimay ihre Tochter, und so gab sie ihre Deckung auf, um zu einer anderen Stelle zu schleichen, von der aus sie das Gesicht ihrer Tochter sehen konnte. Sie mußte sicher gehen, daß es wirklich Malinali war. Als sie ein neues Versteck gefunden hatte und in die Augen ihrer Tochter sah, glaubte sie nicht, was sie dort sah: Die Augen von Malinali, sonst so sanft und braun, waren nun hart und kalt, sie sah aus, als würde sie durch alles und jeden hindurch sehen. Und sie waren von einem leuchtenden Blau, wie Cusirimay es noch nicht gesehen hatte. Für die Kräuterfrau stand fest, daß sich ein Gott ihres Mädchens bemächtigt haben müsse, denn ihr fiel ein, daß die Stimme damals gesagt hatte, sie würde sich ihrer Tochter bedienen, wenn sie sie brauche. Doch noch war ihr nicht klar, was Malinalhuatl mit den Toquateken zu schaffen hatte. Noch bevor Cusirimay weiter überlegen konnte, geschah etwas neues: Ein Mann aus dem Dorf wurde hinter einem der Bäume hervor geführt, der Sohn eines der Maisbauern. Er wehrte sich nach Leibeskräften, rief Malinali an, doch sie reagierte nicht, als sei sie in Trance. Vier der Toquateken führten ihn zum Altarstein und legten ihn darauf, hielten ihn fest, zwei seine Arme, zwei seine Beine, so daß er seinen unbedeckten Brustkorb nach oben drücken mußte. Er schrie und flehte zu Malinali, ihn zu verschonen, doch diese hörte nichts. Ein unheimlicher Gesang der Umstehenden klang an, der Cusirimay einen Schauer nach dem anderen über den Körper jagte. Sie verstand ihn nicht, war er doch in jener ihr fremden Sprache gesungen, doch er klang düster, und zu ihrem blanken Entsetzen hörte sie zwei Namen heraus: Ch’aska Manka – dies sagte ihr nichts, doch der Name kam immer wieder – und Baba Croqua. In jenem Moment weiteten sich ihre Augen in plötzlichem Verstehen, und als ihre Tochter, ihre kleine Malinali, dem unglücklichen Bauernsohn, mit dem sie selbst aufgewachsen war, das Opfermesser in die Brust stieß, so daß er noch einen letzten qualvollen Schrei ausstieß, eine Öffnung hinein schnitt, zwischen Strömen von Blut das noch schlagende Herz hervor brachte, dieses der verwitterten Statue entgegenhielt, es daraufhin zu ihrem Mund führte, einmal kräftig hineinbiß und es sodann ins Feuer warf, verHijklmnopqrsb PQRS\abcdefij Gesprengte Ketten Seite 11 stand sie endlich. Cusirimay verstand, was damals bei der Opferung ihrer Tochter wirklich geschehen war. Nicht Malinalhuatl hatte sich ihrer Tochter bemächtigt und ihre Opferung verhindert. Nur die Gabe des Wachstum war von ihr gekommen, vielleicht als Wiedergutmachung für das, was der andere Gott ihr angetan hatte. Die Hebamme erschauerte, als sie der Erkenntnis gewahr wurde. Nein, Malinali gehörte Baba Croqua für immer. Dem Gott, dem auch ursprünglich, vor langer Zeit, diese Opferungsstätte gehört hatte. Cusirimay konnte es nicht länger mit ansehen, sie floh vor dem grausamen Anblick, verbarg sich im Unterholz und weinte bitterlich. \ Als Malinali kurz vor der Morgendämmerung erwachte, hatte sie das furchtbare Gefühl, etwas zu erleben, was ihr schon einmal widerfahren war. Sie erwachte im Wald, vor dem Altarstein liegend, auf dem sich wieder eine riesige Blutlache befand, wieder war sie in diesen unnatürlich blauen Poncho gekleidet und wieder waren ihre Hände bis zu den Ellbogen mit Blut verschmiert, diesmal auch ihr Gesicht. Sie warf den Poncho von sich, rollte sich zu einer kleinen Kugel zusammen und schluchzte Kraftlos. Was geschah nur mit ihr? Cusirimay, die aus der Erzählung ihrer Tochter vermutete, daß sie wieder verwirrt im Wald erwachen würde, hatte all ihre innere Kraft zusammen genommen und war im Wald geblieben, um Malinali zu berichten, an was diese sich offenbar nicht erinnern konnte. So kam die Kräuterfrau schweren Herzens nun wieder zurück zum Altar, vor dem sie ihre Tochter sah, klein zusammen gekrümmt und vor Schluchzern bebend. Sie eilte zu ihr und berührte sie nur sacht, doch Malinali zuckte zusammen, wie ein wildes Tier. Erst langsam bemerkte sie, wer da bei ihr war, und als sie schließlich erkannte, daß es sich um ihre Mutter handelte, warf sie sich in deren Arme, ungeachtet des viele Blutes. Cusirimay wiegte sie nur eine ganze lange Weile, bis sich Malinali etwas beruhigt hatte, und murmelte beruhigende Worte. Als Malinali wieder klar denken konnte, führte Cusirimay sie zu dem Tümpel, an dem sie sich schon einmal vom getrockneten Blut gereinigt hatte und half ihr, sich zu waschen. Den blauen Poncho hatte sie mitgenommen, denn sie wollte das Kleidungsstück ihrem Gatten und Häuptling sowie dem Sumi des Dorfes zeigen. Vielleicht wußten sie, was die Zeichen darauf bedeuten sollten. Schließlich nahm Cusirimay das Amulett, das sie von ihrer Mutter bekommen hatte, ab, legte es Malinali in die Hand und schloß deren Finger darum. „Dieses Amulett habe ich, wie du weißt, von meiner Mutter auf ihrem Totenbett bekommen, die es wiederum von ihrer Mutter bekommen hat. Ich kann dir nicht genau sagen, was es bedeutet, aber es hat die Frauen unserer Familie immer beschützt. Nimm es und trage es, mein Kind. Du brauchst jetzt so viel Schutz, wie möglich.“ Ehrfürchtig öffnete Malinali ihre Hand, nahm das Amulett hoch, betrachtete es einen Moment und legte es sich dann selbst um. „Ich werde es immer in Ehren halten, Mutter“, versprach sie. Sodann widmete sich Cusirimay der grausamen und undankbaren Aufgabe, ihrer Tochter zu berichten, was sie tat, wenn sie nicht sie selbst war. Sie begann, die Augen auf den Boden gerichtet, nur hin und wieder zu Malinali hochschauend, ihr zunächst stockend, doch dann wie im Fieberwahn, alles zu berichten, jeHijklmnopqrsb PQRS\abcdefij Gesprengte Ketten Seite 12 des Detail. Dadurch hatte sie jedoch übersehen, daß sich Malinalis Augen bereits ab ihren ersten Worten wieder zu einem tiefen Blau verfärbt hatten. Als Cusirimay endlich wieder hochsah und sich der Veränderung gewahr wurde, lächelte Baba Croqua sie aus dem Gesicht ihrer Tochter heraus an. Es war kein freundliches Lächeln. \ Einige Zeit später erwachte Malinali wie aus einer kurzen Ohnmacht, kniend. Wieder waren ihre Hände über und über klebrigen Blutes, doch diesmal war ihr grausiges Werk, von dem sie immer noch nicht mehr wußte, als zuvor, noch nicht gänzlich vollendet. Sie starrte auf ihren Händen, und erkannte im Zwielicht des Blätterwaldes des Dschungels, was sie dort hielt. Sie blickte auf die blutige glitschige Masse und konnte schwerlich unterscheiden was davon einer ihrer eigenen blutbefleckten Finger war und was zu den Eingeweiden ihrer Mutter gehörte. Cusirimays Leib lag in einer großen, langsam versickernden Blutlache vor ihr auf dem Waldboden, ihr Bauch geöffnet, der Mund wie zum Schrei aufgerissen, der Blick ungläubig und entsetzt und ... verloschen. Malinali ließ die glitschigen, dunkelrot glänzenden Eingeweide ihrer Mutter von ihren Fingern gleiten, starrte abwechselnd auf ihre Hände, dann auf den Leib ihrer Mutter und ihre Augen weiteten sich vor entsetzen. \ Dann begann sie, zu schreien. \ Eine Geschichte – Wie so viele Andere auch.... .........oder?