Aus dem Leben einer Strohpuppe

Aus Xidurianische unabhängige Bibliothek
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Debora Jarosch September 2007

“Da bist du ja, Chimpu!” Ein kleines Mädchen in der üblich simplen, aus naturfarbenem Xixal hergestellten Bekleidung der einheimischen Bauern, strich sich ihre langen schwarzen Haare hinters Ohr und hockte sich neben die Puppe, die ein wenig abseits vom Haupt-weg, der durch das Dorf Cariapata führte, an einer Hauswand lag. “Ich hatte schon gedacht, ich hätte dich verloren!” Das kleine Mädchen, sie mochte nicht mehr als vier oder fünf Sommer zählen, hob die zerdrückte Strohpuppe hoch und drückte sie wie den größten Schatz der Welt an ihre Brust. “Zincicha! Wo bist du denn? Komm sofort her, wir müssen noch so viel Mais putzen!” Von der Stimme ihrer Mutter aufgeschreckt, stand Zincicha auf, um zurück zu laufen, hielt jedoch in der Bewegung inne und beschattete ihre Augen mit einer Hand, um zum Horizont zu sehen. “Mama, da kommt eine riiieesige Staubwolke!” rief sie. Ihre Mutter, eine junge hübsche Frau mit einem dicken Zopf und einer Figur wie eine junge Göttin – trotz der drei Kinder, die sie bis jetzt geboren hatte – stand auf und ging zu ihr hin, mit der selben Geste zum Horizont blickend. Für einen Moment wußte sie nicht, was sie davon zu halten hatte, doch dann entdeckte sie etwas, was ihrer kleinen Tochter entgangen war, und sie schrie erschrocken auf. In einer einzigen hastigen Bewegung drehte sich die Chinche-Frau, ihre kleine Tochter am Arm hinter sich her ziehend, um und schrie aus Leibeskräften den anderen Frauen zu: “Die fremden Soldaten kommen! Versteckt euch!” Woraufhin alle anderen Frauen erschrocken aufstoben wie die Spreu im Wind und ihre Kinder einsammelten, den Mais vergessend.

Noch wuselten alle wie wild durcheinander, als die Männer von den Feldern ge-rannt kamen – die Hastatt, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, das Verderben für dieses Dorf zu sein, auf den Fersen. Hier und da brach einer der rennenden Män-ner, von einem Pilum im Rücken getroffen, schreiend zusammen, die anderen rannten, so schnell sie konnten. Doch es nützte ihnen nichts. Die Legionäre mit ihrem blutigen und sinnlosen Auftrag kamen über Cariapata wie eine Urgewalt. Im Dorf angekommen, verstärkte sich das Schreien der Männer durch die schrillen Rufe ihrer Frauen, die sie sterben sahen, ins Hundertfache. Zincicha, die immer noch von ihrer Mutter hinter sich her gezogen wurde, verstand nicht, was los war. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, daß manchmal die fremden Soldaten kommen und ein Dorf bestrafen, das nicht artig war. Aber sie waren doch artig gewesen? Oder kamen diese großen bösen Männer nun, weil sie gestern ihren Maisbrei nicht aufgegessen hatte, trotz der Ermahnungen ihrer Mutter? Panische Angst überzog das kleine Mädchen, Angst, daß sie Schuld daran hatte, daß ihr Dorf jetzt bestraft wurde. Doch noch bevor sie ihre Mutter danach fragen konnte, blieb diese stehen und schob sie unsanft auf einen Haufen Schutt und Geröll zu, der die Stelle markierte, wo vor einiger Zeit eine leerstehende Hütte am Dorfrand zusammengestürzt war. Noch hatte niemand die Steine, Stöcke und brüchige Lehmklumpen weggeräumt, viel wichtiger war allen die anstehende Ernte gewesen. Während sie sich noch fragte, was ihre Mutter jetzt von ihr erwartete, kniete diese auch schon vor ihr nieder, packte sie ungewohnt fest am Arm und sah ihr eindringlich in die Augen. “Hör mir zu, Zincicha! Versteck dich unter dem Geröll. Ich weiß, daß ihr Kinder da immer verstecken spielt. Versteck dich, so gut du nur kannst, so, daß dich niemand findet, hörst du? Das ist sehr wichtig! Du darfst dich nicht rühren und keinen Laut von der geben, auf gar keinen Fall! Komm erst wieder heraus, wenn ich es dir sage! Hörst du?!” Aufgrund des eindringlichen Tonfalls ihrer Mutter brachte Zincicha kein Wort heraus, und nickte nur. “Gut, los, worauf wartest du noch? Ich muß deine Brüder suchen! Los, geh!”

Das kleine Mädchen rannte los und versteckte sich, während ihre Mutter ihr noch kurz nachsah, und dann mit Tränen in den panikgeweiteten Augen davon rannte, um ihre beiden anderen Kinder zu finden. Zincicha versteckte sich, so gut sie nur konnte. Sie war bei den Versteckspielen mit den anderen Kindern oft die Gewinnerin gewesen, da sie so klein, leicht und wendig war. Sie wußte, daß sie sich gut verstecken konnte. Und Erleichterung durchströmte sie. Wenn ihre Mutter wollte, daß sie sich versteckte, dann war doch nicht sie schuld, daß die fremden Soldaten kamen. Nur, warum kamen sie dann? Trotz ihrer Angst und ihres verzweifelten Wunsches, Ihre Mutter möge sie in den Arm nehmen, ihr sagen, daß alles wieder gut wäre und ihr ein Lied vorsingen, tat sie, wie ihr geheißen worden war, und grub und bohrte sich so tief in den Geröllhaufen, wie sie nur konnte. Ein winziges kleines Loch zum atmen und gucken ließ sie frei, ansonsten begrub sie sich selbst und ihre Puppe Chimpu unter Lehmbrocken und kleinen Steinen. Chimpu lächelte. Als sie das Gefühl hatte, gut genug versteckt zu sein, wurde Zincicha ganz still, sah aus ihrem winzigen Guckloch heraus und wartete, daß ihre Mutter sie erlösen würde.

Was sie dann jedoch aus ihrem Versteck heraus sah, erschütterte und traumatisierte das unschuldige Mädchen zutiefst und veränderte sie für den Rest ihres Lebens. Sie sah rennende und schreiende Menschen, sie sah die fremden Soldaten in ihren schuppenartigen Rüstungen mit Waffen hinter den Freunden ihrer Eltern herjagen und sie von hinten umbringen. Sie sah, daß alle Hütten, die in ihrem beschränkten Blickfeld lagen, brannten oder von den Soldaten eingetreten wurden. Oder beides.

Sie sah ihren Onkel, der tapfer versuchte, sich mit einer Heugabel zu wehren, der jedoch gegen drei der fremden Soldaten keine Chance hatte. Er wurde nicht nur umgebracht, nein, zu Zincichas großen Schrecken schnitten sie ihn vom Hals bis zu den Beinen auf, holten mit der Spitze ihrer kurzen Schwerter seine Eingeweide heraus, hängen sie ihm um den Hals und lachten dabei. Sie lachten, während ihre Onkel, der bei alldem immer noch lebte, schrie und schrie, bis seine Kräfte versagten und er tot zusammenbrach.

Sie sah, wie vier weitere der fremden Soldaten einen ihrer Spielkameraden, einen Jungen, der gerade drei Sommer zählte, lachend in die Luft warfen und jeder von ihnen versuchte, ihn im Herunterfallen auf sein Schwert aufzuspießen. Das Ergebnis war, daß er drei von den vier Schwertern im kleinen Leib stecken hatte und daher nur kurz schrie. Noch bevor die Soldaten ihre Schwerter von seinem schlaffen Körper befreiten, machten sie sich über ihren Kameraden, der als einziger nicht getroffen hatte, lustig.

Zincicha weigerte sich tief in ihrem Inneren, zu akzeptieren, was sie da sah. Zu schrecklich war das alles, so anders als alles heute morgen beim Aufstehen noch war, daß sie ihre Augen abwandte und Chimpu mit verzweifeltem Flüstern erklärte, daß das alles nur ein fürchterlicher Alptraum war, daß sie beide gleich aufwachen würden und alles wäre in Ordnung, und Mama hätte den Frühstücksmaisbrei fertig, und Zincicha würde nie wieder nicht aufessen, damit die fremden Soldaten nie kommen müßten. Chimpu lächelte weiterhin.

Doch gerade, als sie selbst mit der Phantasie von Kindern begann, zu glauben, was sie da sagte, hörte sie eine ihr vertraute Stimme draußen verzweifelt schreien: Ihre Mutter. Es schien, daß sie ihre beiden anderen Kinder gefunden hatte, denn diese rannten links und rechts von ihr an ihrer Hand, doch rannten zwei der Soldaten hinter ihnen her und holten auf. Mit einem Schrei, der den Schmerz der ganzen Welt beinhaltete, rutschte ihre Mutter in einer Blutlache aus und riß ihre Kinder mit zu Boden. Keine zwei Wimpernschläge später waren die Soldaten über ihnen und stachen, ohne zweimal hinzusehen, Zincichas Brüder ab. Dann schnappte sich der eine die Arme ihrer Mutter, während der andere vor ihr in die Hocke ging, an seiner Uniform nestelnd, und sagte: “Da hast du es, du kleine Hure. Deine Bälger lenken dich nicht länger von den wichtigen Dingen ab!” Mit diesen Worten drückte er brutal die Beine ihrer Mutter auseinander und warf sich dazwischen, was ihrer Mutter einen weiteren Schrei abrang. Der zweite, der sie festhielt, lachte dabei dreckig und keuchte: “Beeil dich, Mann! Ich will sie schließlich auch noch haben, bevor wir sie abmurksen, wie den Rest dieses feigen Gesindels! Aber die hier war einfach zu lecker, um sie zu verschwenden.” Der erste, der inzwischen auf ihrer Mutter lag, keuchte und stöhnte und hob und senkte seinen Hintern, während ihre Mutter wie am Spieß schrie.

Dicke Tränen rannen Zincicha über ihre Wangen und tropfen auf Chimpu, die immer noch lächelte, und während das Mädchen sich die Lippe blutig biß, um nicht durch einen Schrei – und nach schreien war ihr wirklich zumute – ihr Versteck zu verraten, kam ihr langsam der Verdacht, daß Chimpus Lächeln nicht echt war und auch nie ernst gemeint gewesen war, sonst würde sie in dieser Situation nicht lächeln. Doch plötzlich änderte sich etwas an der Szene vor ihrem Versteck, jedoch nicht zum Guten.

Inzwischen lag der andere der fremden Soldaten auf ihrer Mutter, die sich inzwischen kaum noch wehrte, und der erste hielt sie fest, als plötzlich ein langer Speer, länger als ein Mann und mit vielen Federn geschmückt, mit einem hellen Sirren angesaust kam und den Soldaten sowie ihre Mutter durchstieß und sich in den Boden unter ihnen bohrte. Der zweite Soldat sah überrascht auf, ließ dann sehr schnell die Hände ihrer nun toten Mutter los und rannte, so schnell er konnte, was ihm jedoch nichts nützte – ein zweiter Speer traf auch ihn und warf ihn zu Boden. Danach war es ruhig. Zu ruhig, wie Zincicha bemerkte. Scheinbar war alles vorbei, sie hörte keine Schrei mehr, und auch kein Rennen.

Sie konnte ihr Schluchzen nicht mehr unterdrücken, dachte auch gar nicht mehr darüber nach. Ihre verräterische Puppe im Versteck vergessend, arbeitete sie sich unter geheulten Rufen nach ihrer Mutter langsam aus dem Dreckberg hervor. Als sie das endlich geschafft hatte, rannte sie wie von Sinnen zu ihrer Mutter und rüttelte an ihrer Schulter. “Mama? Mama! Bitte, Mama, wach auf, die Soldaten sind weg... Mama? Mama!” Wilde Schluchzer durchzuckten den kleinen Körper, als sie sich verzweifelt an den Hals ihrer Mutter warf und versuchte, unter dem Körper des toten Soldaten her einen Halt an der einzigen Person zu finden, die ihr immer Sicherheit gegeben hatte und dies nun nie wieder tun konnte.

Lange hatte sie jedoch nicht dort gelegen, als sie spürte, wie eine grobe, kräftige Hand sie am Kragen ihres Kittels hochriß. In seinem Griff mehr hängend als stehend, sah Zincicha mit furchtsamen Blick unter all dem Schmutz, der an ihr haftete, einen furchteinflößenden Mann in einem Adlerkostüm an. Dieser sah auf sie herunter und sagte etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand, zu einer Gruppe anderer Männer, die aussahen wie Chinche, nur waren sie bemalt und trugen Waffen und waren offensichtlich diejenigen, die die fremden Soldaten erlegt hatten. Alles, was sie heraus hörte, war ein seltsamer Name: Baba Croqua. Der Mann im Adlerkostüm warf das kleine Chinche-Mädchen einem seiner Kämpfer zu, der nur wenige Schritte entfernt stand und sie geschickt auffing. Zu diesem Zeitpunkt war ihr schon alles egal und sie ließ sich herumwerfen, wie einen nassen Sack Maismehl. Vielleicht würde sich das wieder ändern, kurz bevor man ihr das Herz auf einem Altar herausschneiden würde. Doch derzeit klammerte sie sich nur an einen Gedanken: Chimpu hatte sie angelogen.

Als endlich wieder Ruhe über dem ehemaligen Dorf Cariapata eintrat, sammelten sich bereits die Aasvögel am klaren, nur leicht rauchgetrübten Himmel darüber, die heute ein reichliches Mahl halten würden.

Und die vergessene und mißverstandene Strohpuppe Chimpu lag am Rande des Geröllhaufens, der einmal eine Hütte war – jetzt einer von vielen – und sah mit ihren Augen, die nur über Kreuz gestickte dunkle Fäden waren.