Marcellus, mein alter Freund
NOCH NICHT FORMATIERT
Aus den Chroniken des Widerstandes “... Schaue zuerst auf Dich,
bevor Du über andere Urteilst ...!”
Aus den Schriften Lli‘phllis
Mareikje Groß
März 2005
Schwarz hingen die Wolken über Tizio und verhießen nichts Gutes. So dunkel der Himmel war, so dunkel war es auch in den Herzen der Bewohner dieser Stadt. Schreckliche Zeiten waren angebrochen. Es herrschte immer noch eine Ausgangssperre und die Soldaten patrouillierten unablässig die Straßen Tizios. Hinter vielen Fenstern flossen Tränen der Verzweiflung, weil man ihre Kinder zum Wehrdienst eingezogen hatte. Jene, die sich mit viel Gold davon freikauften, hatten, zum Schutz vor übergriffen, die Zahl der eigenen Haustruppen erhöht. Verleumdungen waren an der Tagesordnung. Keiner traute dem anderen. Im Palazzo der Familie Marinus durchschritt Parz Medaz nervös seine Gemächer. Tiefe Sorgenfalten hatten sich in seinem Gesicht gebildet und sein Haar war eine Spur grauer geworden. Er war dabei, seine Gedanken zu ordnen, welches ihm allerdings nicht sehr gut gelang. Eigentlich sollte er nicht unruhig hier umhergehen, sondern viel mehr bei seiner Frau sein, um die es nach der Rückkehr aus Sumano nicht zum Besten stand. Die Rückreise war zu beschwerlich für sie gewesen. Er hätte darauf bestehen sollen, das sie noch nicht mit ihm nach Hause zurückkehrte. Aber Marzella hatte ja unbedingt mit ihm reisen wollen. Vor allem, nach dem sie erfahren hatte, daß die Schwestern des Lichts für den Rückweg unter seinem Schutz stehen würden. Der Streit, welcher darauf folgte, war der heftigste gewesen, den beide bisher ausgefochten hatten. Oh, hätte er doch nie nachgegeben. Wenn ihr oder dem Kind etwas zustoßen würde, könnte er sich das nie verzeihen. Aber wie Marzella vor ihm gestanden hatte, so jung, irgendwie hilflos und doch gewaltig in ihrem Zorn, war etwas mit ihm geschehen. Er empfand plötzlich eine tiefe Zuneigung zu seiner Frau. Nun lag sie schon seit über einer Woche im Bett und nur ihre Zofe und Marzellas‘ Heilkundiger durften ihre Gemächer betreten. Dieser versicherte Medaz immerhin, das keine Gefahr für das ungeborenes Kind bestehen würde. Unruhig strich er mit seinen Fingern durch das Haar. Seine Gedanken machten einen Sprung. Er dachte an jenen Augenblick, als Marcellus ihm erzählte, was mit der Agia geschehen war. Und daran, wie machtlos er sich gefühlt hatte. Er war sofort zum Konvent geeilt, nicht wissend, ob Kore überhaupt mit ihm reden würde. Er wußte, das sie ihn nicht mochte, ja ihn sogar haßte. Warum sollte sie also ausgerechnet mit ihm über die Agia reden? Zu seiner Erleichterung war die Priesterin zu einem Gespräch mit ihm bereit gewesen. Aber die Priesterin wußte auch nichts genaues. Jeden Tag war sie zu den Legionären gegangen, mit der Bitte, Fedora sprechen zu dürfen, allerdings ohne Erfolg. Niemand teilte ihr mit, warum die Agia festgehalten wurde, oder ob sie überhaupt noch hier war. Vor einigen Tagen waren ihm dann die Steckbriefe aufgefallen. Die Agia war aus ihrem Gefängnis entkommen und wurde nun gesucht: Wegen Hochverrat! Was hatte sie bloß angerichtet, daß es so weit gekommen war? Diese Frau war Halsstarriger als es gut für sie war. Auch die Sorge um seinen Schwiegervater setzte Medaz zu. Marcellus ging es immer noch nicht besser, im Gegenteil, von Stunde zu Stunde stand es schlechter um ihn. Parz setzte sich. Grimmig starrte er auf die Berge von Arbeit, die sich auf dem Tisch vor ihm auftürmten. Marcellus hatte ihm vor kurzem die ganzen Familienverpflichtungen übertragen. Verärgert schob er einen Stapel Papiere beiseite, öffnete eine kleine Lade und zog einige Bücher heraus. Lieber las er in den Aufzeichnungen von Marcellus. Dazu hatte er bis jetzt keine Zeit gefunden. Vielleicht konnten die ihn ja ein wenig ablenken.
Nach Stunden erhob er sich. Die Kerzen waren fast vollständig herunter gebrannt und flackerten wild. Müde rieb sich Medaz über die Augen. Er konnte nicht fassen, welch finstere Geheimnisse die Tagebücher bewahrten. Er öffnete eine kleine Holzkiste, entnahm eine Kerze, entzündete sie und steckte diese auf den heruntergebrannten Stummel. Danach wanderte er wieder unruhig in seinem Raum auf und ab. Der alte Mann war vom Lumen Vita abhängig. Schon seit so langer Zeit nahm er dieses Zeug. Medaz schüttelte seinen Kopf. Wie konntest du so etwas nur machen, alter Freund? Für so dumm hätte ich dich nicht gehalten. Nun wußte er auch, warum es Marcellus immer schlechter ging. Die Dosis an Lumen Vita in seinem Körper war so gut wie verbraucht, der Verfall hatte schon eingesetzt. So wie es aussah, war seine jährliche Lieferung noch nicht eingetroffen. Ja, Medaz wußte, welch grauenhafte Wirkung dieses Zeug auf Körper und Geist ausübte. Es hatte bestimmt auch einige nicht unwesentliche Vorteile, aber trotzdem war Parz nie in Versuchung geraten, selbst dem Lumen Vita zu verfallen. Wenn man auch nur einmal etwas von diesem Zeug nahm, war man für den Rest seines Lebens davon abhängig. Warum war ihm nicht schon eher aufgefallen, was mit seinem Schwiegervater passierte? Ich werde langsam nachlässig. Dieses ruhige Leben ist Gift für mich. Medaz hatte außerdem durch die Aufzeichnungen erfahren, daß die Söhne seines Freundes elend durch die Abhängigkeit vom Lumen Vita krepiert waren. Marzella wußte von all diesen Vorgängen nichts, und so sollte es auch bleiben. Wenn sie auch nur das geringste davon ahnen würde ... Er mochte gar nicht daran denken ... Medaz blieb vor seinem Tisch stehen und ergriff ein kleines, sorgfältig verschnürtes Päckchen. Vorsichtig löste er die Bänder, schlug den Stoff auseinander und erblickte ein Amulett. Darunter befand sich ein Stück Pergament. Medaz nahm das Amulett in die Hand und betrachtete es genau. Umrankt von Holz lag eingebettet eine Silbermünze darin. Irgendwie erinnerte ihn die Form des Holzes an eine Lyra. Ihm war, als hätte er solch ein Schmuckstück schon einmal gesehen. Aber ihm fiel nicht ein, wo? Dann legte er es auf den Tisch, nahm das Pergament, faltete es auseinander und laß:
Mein alter Freund,
Ich überlasse Dir hier einen Gegenstand von aller größter Macht.
Verwahre ihn gut und gib ihn nie, unter keinen Umständen freiwillig aus Deinen Händen.
Mit den Kräften des Amulettes werden wir die Welt beherrschen. Wir werden alle zertreten, die sich uns in den Weg stellen. Aber höre auf meine Warnung: Traue niemandem, auch nicht den Torreòn!
Ich weiß, daß Du meinen Platz einnehmen und mich würdevoll vertreten wirst. Wir sind vom gleichen Blut, daß wußte ich, als ich Dich das erste mal sah. Deshalb nahm ich Dich in meine Familie auf. Achte auf Marzella und passe gut auf Dich auf. Handle immer so, wie ich es machen würde.
Marcellus
Immer wieder starrte Medaz auf die Zeilen hinab. Oh, Marcellus, etwas weniger rätselhaft wäre besser gewesen. Er ergriff erneut das Amulett und wollte es schon wegstecken, als er es noch einmal sorgfältig betrachtete. Das Gefühl, es schon einmal gesehen zu haben ließ ihn nicht los. Medaz ordnete die Unterlagen, um sie dann in seinem Geheimfach zu verwahren. Er mußte mit dem alten Mann reden. Und zwar sofort.
“Marcellus, hörst Du mich?” Parz klopfte an die Tür, welche zu Marcellus‘ Gemächern führte. Kein Ton war von drinnen zu vernehmen. Ein ungutes Gefühl beschlich Parz, als er die Tür öffnete. Gespenstisch flackerte eine Kerze und warf groteske Schatten an die Wand. “Marcellus?” Parz ging in den Raum hinein und sah sich suchend um. Er konnte den alten Mann jedoch nirgendwo entdecken. Daraufhin ging er auf eine weitere Tür zu, welche zu Marcellus Schlafgemach führte. Durch einen Spalt drang Licht hervor. Langsam hob Medaz seine Hand und öffnete sie ganz. Am Ende des Bettes lag, mit dem Gesicht nach unten, eine seltsam verkrümmte Gestalt. “Marcellus!” Medaz rannte die wenigen Schritte zu ihm hinüber, kniete sich neben den Mann und drehte ihn herum. Er zuckte erschrocken zurück. Was er hier vor sich sah, war ein verzerrtes Abbild von Marcellus. Das ehemals vertraute Gesicht wirkte seltsam entstellt. Tote Augen starrten an die Decke. Der Mund war in namenlosen Entsetzen aufgerissen, die Haut merkwürdig gespannt, an einigen Stellen war sie sogar aufgeplatzt. Das Fleisch, welches darunter hervorquoll, war blutleer und grau. Die Hände waren zu Klauen gekrümmt. Die Haut, welche sie umspannte, hatte Ähnlichkeit mit brüchigem Pergament.Medaz schluckte schwer. Seinen ehemals so vitalen Freund nun so völlig leblos und entstellt zu sehen, brach ihm das Herz. Parz bemerkte, daß eine Hand sich fest um eine Ampulle geschlossen hatte. Vorsichtig versuchte er, sie zu entwenden, aber die Finger waren spröde wie trockenes Holz und brachen sofort, als er an der Ampulle zog. Medaz warf einen Blick hinein. Ein winziger Rest einer grünlich leuchtenden Flüssigkeit war noch zu sehen. Er blickte sich um, und entdeckte, an einem Bettpfosten liegend, einen kleinen Stöpsel. Diesen ergriff er, verkorkte hastig die Ampulle und steckte sie in die Innentasche seiner Weste. “Du Narr!” schimpfte Medaz den Toten. Marcellus hatte also seine Lieferung erhalten, womit allen Anschein nach etwas nicht in Ordnung gewesen war. Er würde den Rest untersuchen lassen, da nach würde er schlauer sein. Als wolle er sich vergewissern, die Ampulle auch wirklich in seine Tasche getan zu haben, tastete er nervös danach. Oh, Marcellus, mein alter Freund. Was warst du doch für ein verdammter Narr. Wie sich die Dinge hier entwickelten, gefiel Parz nicht. Ganz und gar nicht.