Kureel IV

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Phillip Hönig, 2009

Einhundertvierundzwanzig Fenster, da- von zehn ständig beleuchtet. Vierund- vierzig Türen. Aus zweien davon schwim- men täglich je sechs Jäger zu den Fisch- gründen, jeden Tag zur der Zeit, wenn die Sonne anfängt, mal mehr, mal weniger hell durch die Wasseroberfläche zu bre- chen. Einige Zeit danach sehe ich auch schon meine speziellen Freunde, einen kleinen Schwarm von drei Clownfischen an mir vorbeischwimmen, auf dem Weg zu ihrer Lieblingsanemone. Wie jeden Tag grüße ich sie mit einem herzlichen Blubb und bitte sie, auf sich aufzupassen. Ich stehe hier mit meiner Lanze und hal- te Wacht. Die Prunkrüstung aus Perl- mutt, die ich als Heerführer und Reprä- sentant des Wasservolkes noch tragen durfte, ist dem normalen Haifisch-Leder- panzer gewichen, dazu ein Lederring um den Kopf der meine länger werdenden Haare im Zaum hält. Hinter mir ein auf- gehäufter Kuppelbau, wenig schmuck, mehr praktisch errichtet, wahrscheinlich eine Lagerhalle, man hatte mir nie mitge- teilt, was ich hier eigentlich bewache. Da die Halle etwas abseits der Stadt steht und größtenteils schon von Korallen und Algen bewachsen ist, scheint es sich um keinen wirklich bedeutenden Bau zu han- deln. Trotzdem schwimmt mehrmals pro Tag jemand vorbei und sei es nur, um mich zu kontrollieren. Mein rechter Arm ist schon kräftiger ge- worden, seit ich den Speer immer auf Hab-Acht-Stellung präsentieren darf, je- desmal wenn einer der hohen Bewahrer beschließt, meine Wache mit eitlem Ge- habe demonstrativ nicht zur Kenntnis zu nehmen, wenn er in die Halle hinter mir schwimmt. Mir ist langweilig. Sehr, sehr langweilig. Gelegentlich, wenn sich mal wieder eine Alge von der Strömung in mein Haar trei- ben lässt und ich mich daran mache, sie mit eingeübtem Griff zu entheddern, dann sage ich mir zum zweihundert- sieben-plus-x-ten Mal, dass es eine sehr dumme Idee ist, eine Frage zu beantwor- ten, wenn man weiß, dass die Antwort, die man gleich bereit ist, zu geben, eine andere ist, als die, die der Fragesteller hören möchte. Warum nicht einfach mal mit den Schultern zucken, warum nicht die „richtige“ Antwort geben, warum, wa- rum, warum nur ... Mist. Jetzt stehe ich hier. Morgen ist es end- lich eine schöne Zahl: einhundertund- zwölf Tage. Genauso viel wie runde blaue Steine in Sichtweite. Mir ist dermaßen langweilig ... ich könnte laut schreien! Natürlich stand in dem einen Moment, wo ich das einfach mal ausprobiert hatte, mein Gruppenführer heimlich hinter mir und strich meine Ration. Den Kopf gegen die Lanze klopfen brachte auf Dauer Kopfschmerzen und lockte einen neu- gierigen Delfin an, der das natürlich gleich einem Jäger petzen musste und ich hatte wieder nichts zu essen an diesem Abend. Wenn ich wirklich schlechte Laune ha- be, schelte ich mich einen Narren und sa- ge mir, dass ich selber schuld sei. Seit Harrle Davidssons mysteriösem Ver- schwinden und meiner diesbezüglichen Befragung, in der ich nicht bestätigen wollte, dass er als Spion zum Feind über- gelaufen ist, sondern wahrheitsgemäß er- zählte, dass er eben keine Lust auf den täglichen Streit mit dem Rat mehr hatte und, sein Bündel geschnürt, dem nächst- besten Weibe hinterher geschwommen ist ... seitdem darf ich aufpassen, dass der Feind sich auch ja nicht in die Halle hin- ter mir einschleicht. Ist ja auch eine richtige und wichtige Aufgabe! Immerhin könnte es tatsächlich so sein, dass das einzige Volk Magiras, das im Wasser atmen kann, von einer Übermacht an Feinden, in einer Stadt im Wasser, die niemand kennt, angegriffen wird. Und dann bin glücklicherweise ich mit meinem Speer zur Stelle und halte sie davon ab, durch diese Tür zu schwim- men, in der dermaßen strategisch wichti- ges Gut gelagert wird, dass sie mir nicht mal eine Möglichkeit zum Alarm schla- gen gegeben haben. Es ist schmerzhaft, sich einzugestehen, dass man wohl über- flüssig geworden ist. \ Dies ist der Ozean. Eine nahezu endlose, meist dunkle Weite. Schwärme von aneinander desinteressierten Meeres- bewohnern schwimmen kreuz und quer, mal mit, mal gegen die Strömung. Man frisst einander auf und schwimmt weiter. Seit fast einem Jahr treibt eine alte Was- serschildkröte hier auf ihrem Weg einmal rund um die Yddia, immer mit dem Strom, auf ihrem Weg zu den Brutplätzen ihrer Jugend. Forscher haben herausge- funden, dass das Gehirn eines Lebewe- sens umso langsamer arbeitet, desto län- ger es lebt.1 Darum dauerte es ungefähr ein halbes Jahr und eine halbe Umrun- dung der Yddia, bis unsere Schildkröte sich daran erinnerte, jemandem mit Na- men Qurääl zu suchen und diesem eine Botschaft zu überbringen. Sie wusste, es handelt sich wohl um ei- nen Menschen, also schildlose Doppel- flosser mit beweglichem Stachel, wie sie im Tierreich bekannt waren. Manche nannten sie auch „die Pest“ oder „die Räuber“ oder auch nur „die anderen“, je nach Weltanschauung. Jedenfalls waren sie zum einen nicht sehr beliebt, zum an- deren aber jedem Meeresbewohner be- kannt. Das machte die Suche einfach. Als sie nach ein paar weiteren Mond- läufen nun an eine Brutstätte dieser Men- schen kam, dachte sie sich: „Ich bin alt, mir kann nicht mehr viel passieren, Men- schen waren mir gegenüber immer unge- fährlich“2 Als dann auch noch ein Doppelflosser neben ihr auftauchte und sie nicht anzugreifen schien, folgte sie ihm in das Nest. Es bestand aus vielen Löchern und Höhlen mit blinkenden Lichtern, überall wuselte der Menschen- schwarm, besonders die frisch ge- schlüpften kleinen, um sie herum. Sie glitt auf den Boden in die Mitte des Plat- zes und wartete. Ein paar Schlüpflinge gaben ihr Grünzeug zum Knabbern und trampelten auf ihrem Panzer herum. Sie trug das mit stoischer Fassung. Nach einer langen Weile des Wartens hatte sie sich gerade zum Schlafen vor- bereitet, da formte sich in ihren Gedan- ken ein hochfrequentes Echo, wie von ei- nem schnellsingenden Walrudel. Zuerst sehr irritiert steckte sie ihren Kopf aus der Panzerhöhle und sah vor sich keine tobende Meute mehr sondern nur einen einzelnen Menschen, sehr groß, in äus- serst unpraktischem grünen Gewand, mit Funkelzeugs und einem Stachel in der Flosse. Die anderen hielten einen großen Abstand zu ihnen und hatten sich ange- nehm beruhigt. Ihr Gegenüber schien die Quelle des Geräuschs in ihrem Kopf zu sein, deshalb versuchte sie an ihre Bot- schaft zu denken. Tatsächlich schien er sie zu verstehen. Etwas zu schrill formte sich ein „Ja“ als Antwort in ihren Gedan- ken und sie beschloss, wieder die Weite und Ruhe des freien Meeres aufzusuchen. Und ein leicht verwirrter Jäger überleg- te, was er nun zuerst tun sollte: Irgend- einen „Kuuraaal“, oder so ähnlich, su- chen oder seinen Freunden erzählen, wie es sich anfühlt mit einer über hundert- jährigen Riesenwasserschildkröte ge- danklich verbunden zu sein. Unsere Geschichte würde hier enden, wenn nicht ganz zufällig einer der Kum- panen im nachfolgenden Saufgelage ein Kamerad von Qurääl gewesen wäre, der dem Helden dieser Erzählung noch einen Gefallen schuldete ... \ Ich bin gerade damit beschäftigt, he- rauszufinden, ob es denn geht, durch bloßes wildes Schnauben Nasenbluten zu bekommen ... aber kein Hai erscheint, um mich aus der Lethargie zu erlösen, nur ein paar alberne Bläschen. Da nähert sich mir langsam, auffällig vorsichtig, ein Jäger. An der unpraktischen weiten Klei- dung und dem vielen Schmuck kann man erkennen, dass es sich um einen hohen Beamten handeln muss, der schon länger keinen Speer mehr geworfen hatte. Kurz bedauere ich noch, schon wieder nicht in heldenhaftem Gemetzel sterben zu können, als ich ihn vage beginne, zu erkennen. Diese Art zu grinsen, bevor er sprach ... diese langen Haare, zu vier Zöpfen gebunden, die wie Stielaugen an Tiefseefischen aussahen, das kenne ich irgendwo her. „Qurääl?“ „Ja?!“ Ich antworte etwas zu zackig. Die Dressurversuche mittels Nahrungsentzug haben eindeutig Früchte getragen. Der Fremde nähert sich bis auf einen Meter und lacht mich an – oder aus – das weiß ich noch nicht. „Da sieh mal einer an! Sie sagten mir schon, dass ich dich hier finden würde. Ich sagte noch: ‚Nein, das kann nicht sein, der tapfere Held der Polschlacht, abgeschoben, das geheime Alkohollager der Patriarchen zu bewachen!‘ Und sie sagten: ‚Doch, das hat er sich selbst zu- zuschreiben! Versauern soll er da!‘ Pff.“ Ich blicke mich um. Endlich weiß ich, wovor ich da stehe. Anscheinend be- wachte ich einen Berg voller Fässer voller Strömung. Meine Aufgabe erscheint plötzlich in ganz anderem Licht, genauso wie die Mitglieder meines Volkes die da ein und aus gingen. Ich muss leise kichern. „He! Alles in Ordnung?“ Ich fahre wieder herum. Ach ja, der An- kömmling ist ja immer noch da, anschei- nend war ich eine Weile mit den Neuig- keiten beschäftigt gewesen. Wachdienst lässt das Denken einfrieren, so viel steht fest. „Ja, alles in Ordnung. Meine Arme wer- den immer länger. Meine Beine immer kürzer. Mein Verstand verliert gegen sich selber in von mir erdachten Rätsel- aufgaben. Ich bin nur unter Mühen in der Lage, ganze Sätze zu formulieren. Und habe nicht die leiseste Ahnung, woher ich Dich kenne. Aber sonst ...“ „Ich bin Tessu, wir waren zusammen im Schiff, das Dich zum Pol gefahren hat. Wir drehten um, als Du Dich mit einem Beiboot und ein paar Gehilfen durch den Nebel aufgemacht hast. Weißt Du noch?“ Stimmt. Ja, ich war ein Held, damals. Nach der Schlacht bin ich freiwillig zum Wasservolk zurückgekehrt, nachdem die Götter mich für meinen Einsatz belobigt hatten. Ich dachte mir, dem Wasservolk zu dienen sei eine größere Aufgabe, als einen fremden Kontinent mit einer Götterarmee zu erobern. Ruhm und Ehre, schön und gut. Ich aber bewachte ein Ge- wölbe mit herrlich schmeckender, das Dasein wunderbar einnebelnder Strö- mung, von der ich nichts abbekam, son- dern nur diejenigen tranken, deren Welt ich gerettet hatte und die mich danach strafversetzten! Ha! Ich schüttele meinen Kopf irritiert, um klarer zu werden. Das Wasser streicht mir über die Wangen und tröstet mich wieder einmal. Lachen und Weinen lie- gen nahe beieinander in diesen Zeiten. Nachdem mir mein alter Weggefährte die Botschaft überbracht hat, dass ich an Land gesucht werde, mache ich mich auch gleich auf den Weg. Drei Jahre ist es her, dass ich Zanjo zum letzten Mal gesehen habe und bald würde ich sie wiedersehen. Und, wenn stimmt, was die Schildkröte sagte, dann auch ein paar Kinder. Die Möglichkeit, selber schon Kinder zu haben, hat mich gar nicht so umgehauen, wie es hätte sein können. Seltsam ... vielleicht hatte ich schon zu viel gesehen in meinem kurzen Leben, Menschen und dergleichen kamen und gingen, ich hatte vielen das Leben genommen. Und jetzt selber Leben er- schaffen zu haben, gehört wohl dazu. Aber bis ich dort sein würde, muss ich ohnehin noch die halbe Welt überqueren. Vielleicht werde ich ja nie ankommen. Statt über mein neues Leben nachzu- denken, mache ich mir viel mehr Ge- danken, mein altes zu beenden. In meine vom stumpfen Wachdienst gelähmten Gedanken kommt langsam wieder Schwung und in vielen Farben plane ich meinen Abgang. Und wieder steigen klei- ne Bläschen der Freude an die Wasse- roberfläche, als ich leise beginne, zu kichern. \ Aus dem Bericht von Tessu, Kaste der Jäger: „ ... und so kann ich nicht eindeutig bestätigen, dass Qurääl in direktem Zu- sammenhang mit dem Vorfall zu beschul- digen sei. Er hat zwar bekanntermaßen seinen Posten verlassen und ist ver- schwunden, aber vielleicht ist ihm auch etwas zugestoßen bei dem mutmaßlichen Überfall auf das Lager. Es ist auf der ei- nen Seite bis heute ungeklärt, wie sich die Fässer alle gleichzeitig in die Frischwas- serzufuhr der Ratshallen ergießen konn- ten, aber da das einer einzelnen Person nur schwer zuzumuten ist, dies unbe- merkt zu tun, bezweifle ich bis dato eine Alleinschuld oben genannten Krieger „ \ Endlich wieder frei! Es hatte nur zwei Tage gedauert, die Überreste meiner al- ten Truppe zu versammeln. Meine Garda hatte damals bei der Schlacht gegen die Wiemabki zwar hohe Verluste hinneh- men müssen, aber auch wenn sie nur we- nige sind, so sind sie noch genauso effi- zient, wie damals als ich sie auf Geheiß des obersten Kriegers ausgebildet hatte. Während ich nun mit notdürftiger Aus- rüstung, also ein wenig Proviant, Flossen, Kleidung und Viikate, meinem Dolch, in Begleitung meiner Leute, in die Richtung des Festlandes schwamm, erzählten wir uns abwechselnd immer wieder die Ge- schichte, die bald Legende werden wür- de: Wie eines Tages eine ganze Stadt des Wasservolkes im Vollrausch darnieder lag und erwachte mit einem roten Punkt auf der Stirn. Letzteres war nicht meine Idee, aber Hünnäa, unser jüngstes und fleißigstes Mitglied meinte, wir müssten ein Zeichen setzen, also ließ ich sie. So leise und unauffällig wie wir kamen, so laut und unauffällig waren wir dann auch verschwunden. Sie würden nie wissen, wer das war, nach einer Zeit auch ver- gessen und ihre alten Wege gehen. Wie die Gezeiten, die kommen und gehen.




1Deswegen denkt ein Baum sich nichts, wenn er einen Menschen mit Axt ankommen sieht, er kommt allen- falls bis „Oh ...“. Und der dümmliche Gesichtsaus- druck eines Hundes beim Befehl „Sitz!“, heißt eigentl- ich: „Komm zum Punkt, ich habe keine Zeit für Ge- schwätz“ 2Im Original reiht sich hier ein Schnalz an einen Knacklaut an einen Quietscher, aber sinngemäß kann man das so übersetzen. Allzu wenige Leser sprechen Schildkröt, deswegen ...